Von Pascal Mathéus
Freddy ist frei. Entlassen aus dem Gefängnis – und das bereits zum dritten Mal in seinem Leben. Was fängt man mit der Freiheit an, wenn man nicht einmal verstanden hat, wie es so weit kommen konnte? Er streift sich die alte Lederjacke über, wirft die Sporttasche über die Schulter und zieht los. Wohin soll er gehen? Er zögert die Entscheidung hinaus und schwelgt in Erinnerungen.
So rasch lässt sich der neue Roman des 1964 geborenen Schriftstellers und Übersetzers Stefan Moster zusammenfassen. Und doch wäre er damit noch nicht wirklich begriffen. Denn die Haftentlassung stellt zwar den Aufhänger für den Roman dar, sein eigentliches Thema ist aber ein ganzes Leben. Er ist das komplexe Psychogramm einer schillernden Persönlichkeit, ein Generationenroman, der die politische Stimmung und die Mentalität der 70er und 80er Jahre lebendig werden lässt. Und er ist ein antibürgerlicher Bildungsroman, der die Frage nach Chancengerechtigkeit mit Nachdruck stellt.
Ganz zu Anfang begegnen wir Freddy am Meer. Dies erfüllt nicht nur die Voraussetzung dafür, dass der Roman im Hamburger Mare-Verlag erscheinen konnte, der nur Bücher veröffentlicht, in denen das Meer eine zentrale Rolle spielt. Es wird hier, an der von Thessaloniki aus betrachteten Ägäis, auch sogleich ein zentrales Motiv eingeführt, dass das Verhältnis zwischen Freddy und seinen Freunden etabliert. Während Freddy beim Anblick der Wellen ganz außer sich gerät – „er johlte und jauchzte“, er spürt zum ersten Mal die verheißungsvolle Atmosphäre, berauscht sich an der unendlichen Freiheit –, lässt es seine Freunde merkwürdig kalt. Die drei Pärchen, Thomas und Marianne, Lurch und Lioba, Finger und Mechthild haben entweder das Meer schon einmal gesehen oder sind zu geschafft von der Reise, die die sieben Freunde in zwei Autos zurückgelegt haben. Auch hatte es unterwegs Unstimmigkeiten gegeben, die jedoch erst im Laufe von Freddys Erinnerungsreigen aufgerollt werden.
Freddy ist der krasse Außenseiter in der Gruppe. Sein bester Freund Thomas, den er seit ersten Kindheitstagen kennt, hat sein Studium begonnen und ist zu Lurch und Finger, die bereits in höheren Semestern studieren, in die WG gezogen. Ihre drei Freundinnen kommen aus demselben Milieu, Freddy dagegen macht eine Ausbildung zum Mechaniker. Sein Chef, Dr. Hartmann, ein seltsamer, ernsthafter Mann, der stets weiße Hemden trägt, ist der erste Erwachsene, der Freddy auf Augenhöhe begegnet, indem er mit ihm diskutiert. An jenem Dr. Hartmann lässt sich ein entscheidender Vorzug des Romans festhalten: Die Figuren erreichen eine erstaunliche Plastizität. Moster hat sie mit glaubwürdigen Persönlichkeiten ausgestattet, die dafür sorgen, dass sie in Erinnerung bleiben.
Dies gilt natürlich zu allererst für Freddy. Als jüngstes von 13 Kindern scheint sich für ihn ein Ausweg aus der vorgezeichneten Lebensbahn zu ergeben, die schon die Geschwister ins Gefängnis und die Alkoholabhängigkeit geführt hat. Dieser Weg führt über den Nachbarsjungen Thomas, der Freddy zum legendären Aufeinandertreffen von Muhammed Ali und George Foreman einlädt, welches sie zusammen mit Thomas’ Großvater vorm Fernseher verfolgen. Für Freddy ist der Boxkampf eine Offenbarung, Ali wird sein lebenslanges Idol. Bisher hatte er Gewalt immer nur als eine rohe Keilerei ohne jede Regeln kennengelernt, an deren Ende die Demütigung steht. In Ali verbinden sich Eleganz, Fairness und Durchsetzungsvermögen auf eine Weise, die dem Jungen imponiert. Zudem wird dessen Namensänderung von Cassius Clay zu Muhammed Ali zu einer Metapher für Selbstermächtigung, zum äußerlichen Zeichen eines Mannes, der seine Geschichte fortan selbst in den Händen hält.
Doch Freddy ist ein solcher Schritt nicht möglich. Er scheitert mit dem Versuch, bei seinen Freunden Anerkennung zu finden. Immer wieder gerät er gerade dann auf Abwege, wenn er seinem Instinkt für Gerechtigkeit folgt. Besonders die Frauen in seinem Freundeskreis zeigen sich zwar durchaus von seiner ungeschlachten Aufrichtigkeit angezogen, die sich z.B. darin ausdrückt, dass er die Proteste gegen die Pershing II Raketen mit einer viel mutigeren Konsequenz betreibt, als dies für seine redenschwingenden Freunde gelten könnte. Am Ende nutzen aber auch sie ihn aus. Und wenn es hart auf hart kommt, versagen ihm alle die Treue.
Die Sprache des Romans gibt sich unaufdringlich. Moster bemüht sich nicht um einen besonders poetischen Ton. Die naive Menschenfreundlichkeit Freddys wird in einer schlichten, aber durchaus nicht gefühlslosen Sprache übermittelt. Sie drückt sein Staunen aus, aber auch seine Hilflosigkeit und zuweilen seine rasende Wut. Demgegenüber steht die Sprache seiner Freunde, die sich zumeist in einem aufgeblasenen Phrasengedräsche ergeht. Sie ist belehrend – Freddy hasst es, wenn sie Ermahnungen an seine Person stets mit „Freddy…“ einleiten –, sie wirkt nachgesprochen und anmaßend, unnötig kompliziert und nicht welthaltig. Moster lässt sie mitunter in die Parodie hinübergleiten: „‚Mich interessiert nicht, wie er es gemacht hat, sondern mit welchem Bewusstsein‘, sagte Lioba laut. ‚Ich habe nämlich keine Lust, mit einem Phallokraten an einem Tisch zu sitzen.‘“
Auch wenn sich die Gegenüberstellung dieser Welten zuweilen allzu deutlich als Konstruktionsprinzip des Romans zu erkennen gibt, auch wenn die Differenzierung zwischen entfremdeten, verkopften Intellektuellen auf der einen und dem authentischen, aufrichtigen Herzensmenschen auf der anderen Seite manchmal aufdringlich wirkt, sollten diese Vorbehalte insgesamt nicht überbewertet werden. Zumeist scheinen diese Unterschiede in den Erzählungen auf, was ihnen Glaubwürdigkeit verleiht. Sie werden nicht einfach gesetzt und behauptet, wie dies zum Beispiel in Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen der Fall war. Durch die kluge Komposition des Textes werden Freddys Erinnerungen zu einer spannenden Reise in die Vergangenheit, die zum Nachdenken über die Möglichkeit eines gelingenden Lebens animiert. Viel mehr kann man von einem Roman nicht erwarten.
Stefan Moster: Alleingang
Mare 2019
368 Seiten / 24 Euro
Ein Kommentar zu „Wie landet man den Anchor Punch? – Stefan Moster: Alleingang“