Von Louisa Schwope
Fünfundsiebzig Jahre nach Kriegsende schreibt Hans Joachim Schädlich das Buch ‚Die Villa‘ über das Leben einer vogtländischen Familie im Nationalsozialismus. Man könnte meinen: Das Buch kommt zum richtigen Zeitpunkt; erleben wir doch heute, wie rechtes Gedankengut teils ungehemmt aus diversen gesellschaftlichen Kreisen an die Öffentlichkeit dringt. Da braucht es Bücher, die dem entgegen stehen und laut aufzeigen, wie vermeintlich vergangene Strukturen reproduzierbar sind. Ist ‚Die Villa‘ solch ein Buch?
Schädlich erzählt die Geschichte einer sechsköpfigen Familie im Vogtland zwischen 1930 und 1950. Mit großer Ortskenntnis – der Autor ist selbst 1935 im Vogtland geboren worden – zeichnet er dem Leser zudem ein Bild der Region und der Zeit. Der Bäcker, der Bauer, der Lehrer. Oberheinsdorf, Reichenbach, Schöneck, mit dem Finger auf der Karte nachzuvollziehen. Die Landschaft, die Villa. Ohne eine retrospektive Wertung der Dinge, eher aus zeitgenössischer Zeugenschaft, vielleicht gar autobiografisch, beschreibt er nüchtern Abläufe, Ausstattungen, Äußeres.
Im Zentrum des Geschehens steht das Ehepaar Elisabeth und Hans Kramer, verheiratet seit 1931. Schon auf der ersten Seite des ersten Kapitels erfahren wir, dass die Eheschließung gegen den Willen der Braut vonstatten ging, beschlossen wegen ihrer ebenfalls ungewollten Schwangerschaft. Somit ist die Ehe der Kramers und die Geschichte, die sich über rund 190 Seiten spannt, keine leidenschaftliche Liebesgeschichte, sondern eine vernunft- und anstandsgetriebene bürgerliche Angelegenheit. Hans Kramer entscheidet sich bald, aus dem Drogerie-Geschäft seines Vaters auszusteigen und den Wollhandel von Elisabeths Vater Paul Ruttig zu übernehmen. Das Ehepaar hat vier Kinder, ist vor Ort gut vernetzt und erfreut sich durch Hans’ Rolle als NSDAP-Ortsgruppenführer eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs. An der Spitze ihres Erfolges entscheidet Hans Kramer für die Familie, dass das eigene Haus zu klein geworden ist und es einer Villa bedarf – Die Villa.
Die Handlung verläuft in erster Linie chronologisch und in kurzen Kapiteln. In wiederkehrendem Muster erfährt der Leser so auch vom Kriegsgeschehen, über das Hans Kramer seine Frau informiert. Er informiert sie ebenfalls darüber, wie die Situation zu beurteilen ist; und erst als 1941 die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfällt, heißt diese Information: „Jetzt müssen wir Angst haben.“
Auf Nebenschauplätzen findet das Leben der Geschwister der Protagonisten statt. Hier skizziert Schädlich, wie eine ,normale‘ Familie, die nicht selbst verfolgt wurde, dunkle Seiten der NS-Herrschaft erlebt. Elisabeths jüngerer Bruder Fritz, der aufgrund von Schizophrenie in der „Irrenanstalt Rodewisch“ lebt, wird 1940 in Sonnenstein bei Pirna vergast und verbrannt. Die Familie wird per Brief informiert, ihr Sohn sei an Lungenbluten gestorben. Was wirklich geschah, erfährt sie Jahrzehnte später. Nicht etwa haben die brutalen Arme des rechtsextremen Apparats keinen Zugriff auf jemanden, wenn er nur auf der ,richtigen’ Seite steht. Nein; wer hinterfragt, statt nur mitzulaufen, würde aufspüren, was eigentlich passiert.
Schädlich verfasst die Geschichte aus einer beschreibenden, externen Perspektive, einem Chronisten gleich. Gelegentlich lässt er Elisabeth Kramer in wörtlicher Rede selbst erzählen. Das Setting, in dem sie ihr Leben rückblickend zu Protokoll gibt, bleibt dem Leser unbekannt – es weckt den Anschein, als hätte der Autor sich an ihrem Lebensende mit ihr zu einem Interview getroffen, um durch ihre persönliche Wahrnehmung das von ihm Geschriebene bezeugen zu lassen. Im späteren Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass sie großen Anteil an der Leitung der Familiengeschicke hat. Insofern beinhaltet der Roman einen erweiterten Fokus auf die Rolle der Frau im (Nach-) Kriegsdeutschland. Die weitaus umfangreicheren Kapitel, in denen in dritter Person geschrieben wird, repräsentieren möglicherweise die Perspektive der Kramer-Kinder, insbesondere des drittgeborenen Pauls. Dieser Eindruck zwingt sich auf, weil die Beschreibungen in einer kindlichen Einfachheit und Unvoreingenommenheit erfolgen.
Womöglich ist diese Wahrnehmung auch getrieben durch Schädlichs Schreibstil, der sachlich-kühl Zu- und Gegenstände beschreibt. Die Dinge und Vorgänge haben ihre Eigenarten; sie sind z.B. lästig, aber selten fühlen die Menschen in Schädlichs Text dabei etwas. Sie erschrecken, sie wollen manches und anderes nicht – aber was macht das mit ihnen? Man wird eine Formulierung wie „Das führte dazu, dass …“ vergeblich suchen. Der wörtlichen Rede folgt keine Meta-Interpretation durch den Autor. Welche Reaktionen die Handlungen und Ereignisse auslösen, muss zwischen den Zeilen gelesen werden. Unterstrichen wird diese Herangehensweise durch die Satzbildung, in dem häufig das aktive Verb fehlt: „Am 1. Mai ein Festumzug durchs Dorf, organisiert von der Partei und der Gemeindeverwaltung.“ – „Der Gemüsegarten auf der Westseite des Hauses“. Die menschliche Konstitution der einzelnen Figuren des Romans wird ähnlich der Architektur der Villa beschrieben: emotional wie ein Stein, der Aufbau des Stammbaums einem Grundriss gleich. „Der Salon mit dem Büro verbunden, das erste Kinderzimmer mit dem großen Schlafzimmer.“
Eine Ausnahme bilden Hans Kramers Briefe an seine Frau aus dem Krankenhaus, wo er 1943 letztlich an einem angeborenen Herzklappenfehler stirbt. Die Geschichte nimmt hier ihren Wendepunkt – sowohl die der Familie, die in der Folge einen gesellschaftlichen Abstieg erfährt, als auch die des gesamten Krieges, den Deutschland bekanntermaßen verliert. Im Kurhotel Orb bricht im Angesicht des Todes das Unwohlsein in der Einsamkeit aus Kramer heraus, die Sehnsucht nach der Familie sowie die Angst vor dem Krieg und den Gräueltaten, deren Mitwisser er ist. Seine Erkenntnis, „das sind Verbrechen! Ich habe meine besten Jahre Verbrechern geopfert“, weiß Elisabeth Kramer zu entkräften: „Du darfst dich nicht aufregen. Es ist zu spät.“ Ist das Mitleid? Verständnis? Resignation? Befriedigung, weil er es verdient hat, für seinen Teil am Nazi-Deutschland zu sterben?
Viele Kritiker schätzen genau das an Schädlich: Dass er Leerstellen lässt, die den Leser zum eigenen Füllen und Interpretieren auffordern (bspw. Paul Stoop im Deutschlandfunk vom 16.03.2020). Dass er es nicht für nötig erachtet, auf Konsequenzen hinzuweisen, sondern den Leser als mündig genug betrachtet, dies selbst zu übernehmen. Wenn man nicht intensiv mit sich selbst oder einem Gegenüber diskutiert, ist das Leseerlebnis dadurch abschnittsweise fad. Wer ausreichend historisches Wissen hat und Feinsinn sowie Fantasie für die leisen menschlichen Zwischentöne, kann bei Schädlich eine andere Form des historischen Romans entdecken, in der der Leser die Handlungsstränge selbst ausformuliert. Wer wiederum eine Aufklärung zu einer NSDAP-Ortsgruppe im Vogtland sucht, wird hier nicht fündig.
Das konkrete Zutun eines Hans Kramer zu der grausamen Nazi-Maschine wird nämlich nicht benannt. Die Dinge sind, wie sie sind, und so schildert Hans Kramer das Einmarschieren Deutschlands in Österreich 1938 als „natürliche Sache“; die Österreicher sprächen schließlich auch Deutsch. Für die Zeichnung dieser Charakterzüge könnte Adolf Eichmann Pate gestanden haben, dem Hannah Arendt in „Eichmann in Jerusalem“ u.a. die Fähigkeit, selbst zu denken aberkennt, weil er klischeehafte Phrasen verwendet und sich hinter Amtssprache versteckt. Ist es dann noch Verständnis für den kleinen Mann und die kleine Frau, die Schädlich zu seinem reduzierten Stil bewegen? Was können wir als einzelne schon bewirken, und versucht nicht jeder nur, sich sein kleines Päckchen Glück im Leben abzuholen? Oder ist es die Aufforderung, sich an die eigene Nase zu fassen und den Widerstand gegen rechte Gesinnungen im eigenen Umfeld zu hinterfragen? Schädlichs Leben gibt klare Antworten auf diese Fragen; der Roman selbst tut es nicht.
Hannah Arendt hat mit ihrer Eichmann-Studie womöglich ein ähnliches Ziel verfolgt: Jedes einzelne Rädchen im NS-Regime betrachten, das sich noch so unbedeutend fühlen oder gar kein eigenes Motiv haben mag, um zu unterstreichen, dass jeder Mittäter sich aus freiem Willem gegen die Verbrechen hätte entscheiden können. Eichmann befand sich selbstverständlich an wesentlich einflussreicherer Position als ein Hans Kramer, doch auch als Mitwisser kann man sich schuldig machen, und ein staatliches Unrechtssystem wird von vielen kleinen Rädchen bewegt. Der große Unterschied ist, dass Arendt über das Verhalten Eichmanns klar urteilt, was Schädlich komplett auslässt. Es handelt sich bei „Eichmann in Jerusalem“ aber schließlich auch um keinen Roman.
Im Epilog berichtet Schädlich, dass die Villa in der Heinsdorfer Straße 36 samt Grundstück an die Firma Hermann Schwelling Maschinenbau verkauft worden sei. Diese Firma, kurz „HSM“, gibt es tatsächlich. Sie stellt Ballenpressen und Aktenvernichter her und ist laut Schädlich Marktführer in Deutschland. 2011 führte das Unternehmen auch Festplattenvernichter auf dem Markt ein. 2007 erhielt sie eine Abrissgenehmigung durch das Regierungspräsidium Chemnitz für die Villa. Welch ein raffinierter Schluss, um auf das Vergessen anzuspielen. Um die womöglich implizierte Mahnung herauslesen zu können, bleiben jedoch zu viele Fragen offen.
Hans Joachim Schädlich: Die Villa
Rowohlt 2020
192 Seiten / 20 Euro
Foto: Louisa Schwope
Tolle Rezension, eine wahre Wortkünstlerin!
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