Dumpf dröhnt es aus dem Beton,
Stoppock, Aus dem Beton
wie ein Schrei in das Ohr,
es dröhnt wie ein Gong
und es kommt ihm so vor,
als sei der Winter zu Ende
Von Florian Wernicke
Weniger nach der romantischen Liebe, als nach einer Erklärung für das ihm Widerfahrene sucht Christian Baron in seinem ersten Roman ‚Ein Mann seiner Klasse‘. Darin erzählt er die Geschichte einer tragischen Kindheit, die die seine ist. Davon, wie er und seine Familie unter Armut, Gewalt, Alkoholismus und der Ausgeschlossenheit aus weiten Teilen der sie umgebenden Gesellschaft litten. Davon, wie er dieser Welt entstiegen ist und was von dieser noch heute in ihm übrig ist.
Stefan Stoppok singt mir in meinen linken Gehörgang. In dem Song, aus dem die obigen Verse stammen, geht es um das Glück der sogenannten „kleinen Leute“, um die Hoffnung auf das Besondere im manchmal ganz Profanen. Ein Lied mit Klassenbewusstsein sozusagen. Schließlich lauern hier nicht Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann auf das große Los. Eher ringen Roswitha und Rainer um die Gunst des Schicksals in der Platte.
In den 1990er-Jahren lebt die Familie in einer prekären Wohnsiedlung im Osten Kaiserslauterns. Der Lohn des Vaters muss für alle reichen, auch wenn Kneipennächte diesen in kürzester Zeit pulverisieren. Es gibt nur sporadisch Strom, an kalten Tagen wird gefroren und der anfängliche Hunger steigert sich für alle zur Angst vor dem Verhungern. Der Vater arbeitet als Möbelpacker, ist schwerer Alkoholiker und exzessiv gewalttätig. Die Mutter erträgt, wie auch die Kinder, die Schläge und Demütigungen ihres Ehemannes, versinkt in tiefe Depressionen und stirbt schließlich mit nur 32 Jahren an Krebs. Nach dem Tod der Mutter, kommen die Kinder in die Obhut ihrer Tante Juli, bei der sie weiter aufwachsen. Größtenteils ohne die Anwesenheit des Vaters, was den Ausweg markiert. Christian Baron selbst besucht als einziges Kind das Gymnasium, studiert und wird zum Autor dieses Buches. Barons Vater stirbt acht Jahre nach der Mutter mit 43 Jahren – der Beginn dieses Buches.
Ich lese mich durch Szenen menschlicher Verwüstung. Immer wieder Schläge, Schreie, Herabwürdigungen, Unfassbares. An meinen klammen Händen macht sich die Übertragung der spürbaren Furcht vor dem Nachhausekommen des unberechenbaren Mannes, der sich in manchen Momenten als stolzer Vater und Ehemann versteht, bemerkbar. Mit ungeschönter Klarheit erzählt Christian Baron davon wie sich Angst in Alltag und Mangel in Selbstverständlichkeit wandeln, wie die Scham immerwährender Begleiter einer scheinbar inkorporierten Klassenzugehörigkeit ist. Auch er gehörte so zu jenen, denen die ehrbareren Nachbarn „nichts Gutes zutrauten und die sie unschwer zu erkennen glaubten an ihren zerfetzten und verdreckten Klamotten, an ihren über Generationen hinweg vererbten Sozialhilfekörpern.“
Die Figuren seiner Geschichte wirken nicht wie fiktive Charaktere. Es sind Menschen mit realen Hoffnungen auf ein gutes Leben, mit Werten, Haltung und Schwächen – Menschen mit Würde. Solche, die erfüllt sind von zutiefst menschlichen Bedürfnissen: Der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Anerkennung und Teilhabe. Und solche, die zugleich das Vertrauen in das öffentliche Interesse an ihnen und die politische Vertretung ihrer Interessen verloren haben. Christian Baron verzichtet auf eigenschaftsbezogene Festschreibungen und lässt seine Figuren keine pauschale Zuschreibung von Schuld oder Verantwortung für ihre jeweiligen Lebenslagen erfahren. Vielmehr agieren sie als Berichterstatter diverser Lebenswelten sozioökonomisch benachteiligter, gesellschaftlich ausgegrenzter Gruppen, die viel zu oft zum Produkt und in gleicher Weise zu Reproduzenten der ihnen widerfahrenen sozialen Ungleichheit und Exklusion werden. Die Quintessenz des Romans klingt so: „Unser Vater war ein Mann seiner Klasse. Ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun mal war. Das entschuldigt nichts, aber es erklärt alles.“
Man muss dem nicht zustimmen, kann es aber als fair bezeichnen, das eigene Leben und Erleiden im Spiegel einer klassengebundenen Biografie verstehen zu wollen. Christian Baron findet unverstellte Worte, um die Zementierung klassengebundener Zuschreibungen und die darin liegende, sich in vielen Einzelbiografien auftürmende strukturelle Ungleichheit zu benennen.
Die Sprache des Buches ist unverstellt, wie eben auch sein Inhalt. Entgegen der vielen geschilderten Furchtbarkeiten jedoch, bleibt der Ton empathisch und zugänglich. Klug und mit sozialwissenschaftlichem Gespür gelingt es Christian Baron, die eigenen Erfahrungen im Spiegel klassenbezogener Bedingtheit zu interpretieren. Er zeichnet Lebenswege, die bereits weit vor den Erfahrungen seiner Kindheit absehbar in das münden, was später in diesem Buch zu lesen ist. Das meint nicht, dass Unrecht entschuldigt; sehr wohl aber, dass es verstehbar gemacht werden kann und muss, wenn das Ziel einer Gesellschaft in der Gewährung von Chancen auf gleichwertige Lebensbedingungen und ein würdevolles Leben für alle ihre Mitglieder liegen soll.
Neben all den schmerzerfüllten Erinnerungen, sind es auch die eines Achtjährigen an nikotinschwere Kneipenabende, Horrorfilm-Nächte im verqualmten Wohnzimmer, das aufregende Erkunden von Pornoheftchen, das Nachahmen von Alkohol- und Nikotinkonsum und die kindliche Vorfreude auf irgendwelche „Männerangelegenheiten“ die Raum für kindliche Freude und Abenteuer lassen. In ihnen treten Momente der Zugehörigkeit, einer gewissen Leichtigkeit und Eindrücke eines noch fernen Erwachsenseins zutage, die trotz ihrer Fragilität die Qualität des Besonderen innehaben.
Christan Baron ist 1985 geboren, arbeitet als Journalist in Berlin und ist verdientermaßen Träger des diesjährigen Klaus-Michael Kühne-Preises, welcher das hier besprochene Romandebut honoriert. Mit Ein Mann seiner Klasse und seiner quasi autoethnographischen Perspektive teilt Christian Baron mit uns die Innensicht auf eine Welt, die oft im Verborgenen liegt oder für Einschaltquoten skandalisiert wird. Es sind Einblicke in Lebensgeschichten und gesellschaftliche Realitäten, die zwar alltäglich, aber keineswegs öffentlich allgegenwärtig sind und in den Charts der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur kaum vorkommen. Es ist eine Geschichte, die wir hören sollten, weil sie uns mit dieser Erfahrungswelt konfrontiert, ohne welche wir ärmer wären als Leser, Menschen und als solidarische Gesellschaft.
Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse
Claassen 2020
288 Seiten / 20 Euro
Foto: 11333328 / pixabay.com