Von Pascal Mathéus
Zu zweit geht alles leichter, sagt der Volksmund. Das ist eine Lüge. Xaver Bayer entwirft in ‚Geschichten mit Marianne‘ ein Panoptikum von Beziehungsmomenten, die allesamt ins Phantastische gesteigert werden und dadurch zu den Urängsten und tiefsten Wünschen von Liebenden vordringen. In zwanzig traum- und albtraumhaften Episoden wirft Bayer Schlaglichter auf die vielfach vertrackte Idee eines Lebens zu zweit. Alle begehren es und doch macht es nichts als Kummer. Es ist die einzige Rettung und gleichzeitig ein nicht enden wollender Sturz in den Abgrund.
Zwanzig Geschichten mit Marianne erzählt Xaver Bayer in seinem neuen, mit dem österreichischen Buchpreis ausgezeichneten Band. Der Erzähler kennt Marianne seit seiner Jugend und ist anscheinend unzertrennlich mit ihr verbunden. Die Kapitel des Buches (kann man es einen Roman nennen?) springen durch die Zeiten und sind auch an keine festen Orte gebunden. Mal wohnen Marianne und der Erzähler zusammen, mal sind sie weit voneinander entfernt und erreichen sich nur über das Telefon. Es ist nicht klar, ob hier zusammengehörige Episoden aus einer wirklichen Beziehung erzählt werden oder ob es sich um idealtypische Momentaufnahmen handelt, die jedem Liebespaar zugeordnet werden könnten. Bayers Erzähler bekennt: „Ich bin sogar im Zweifel, ob ich Marianne überhaupt je begegnet bin oder ob sie nicht einfach nur eine Ausgeburt meiner Phantasie ist.“
Phantastisch sind die Begebenheiten in jedem Fall. Einmal handelt es sich um eine an Kafka gemahnende Versuchsanordnung in seltsamen, gestaltwandelnden Gebäuden. Ein anderes Mal wirft Bayer seine Figuren in die grauenerregendsten Terroranschläge hinein. In einer dritten Geschichte gelingt es dem Erzähler nicht, Marianne zu erreichen, weil der Aufzug, der in zu ihrer Wohnung bringen soll, einfach nicht aufhört, nach oben zu fahren.
Zusammengehalten werden diese Episoden von der anziehenden und abstoßenden Präsenz Mariannes. Sie spielt mit dem Erzähler, tut ihm Grausames an, prüft ihn und lässt ihn abstruse Liebesbeweise erbringen. Dann wieder halten die beiden sich aneinander fest, versuchen zusammen gegen eine von außen auf sie eindringende Bedrohung zu bestehen – und scheitern auch dabei. Nur einmal sinkt der Erzähler am Ende einer Geschichte zufrieden ins Bett und spürt „ein allumfassendes Gefühl der Euphorie über diesen Tag, über diesen schönen, wunderbaren, unwiederbringlichen Tag der Freunde des lauteren Glücks.“
Die Geschichten folgen in atemloser Reihung aufeinander. Bayer verliert keine Zeit mit langen Vorreden, sondern katapultiert seine Leser jedes Mal in eine neue, nervenaufreibende Situation. Auch wenn es vielleicht ratsam wäre, das Buch Kapitel für Kapitel zu lesen, fällt einem dies schwer. Die Rasanz macht Bayers Buch zu einem echten Pageturner, bei dem man sich aber bremsen sollte, wenn man die ganze Tiefendimension seiner Geschichten mitbekommen möchte.
Die Flüchtigkeit und Unwiederbringlichkeit ist genauso ein Motiv des Textes, wie die erotische Spannung und der ewige Machtkampf zwischen den Geschlechtern. Aufeinander angewiesen zu sein und sich dennoch in den allermeisten Situationen keinen Halt geben zu können, ist der tragische Konflikt, dem Bayer auf der Spur ist. Das könnte man banal finden, weil es bereits so vielen Romanen und Erzählungen zur Grundlage diente. Bayers zupackender Griff und seine funkelnde Sprach- und Einbildungskraft, bei deren Gebrauch er kein Risiko scheut, ringen dem alten Thema aber neue Erkenntnisse und neue Bilder ab. Geschichten mit Marianne ist deshalb alles andere als banal, sondern ein literarisch und psychologisch aufregender Versuch, den Rätseln der Liebe auf den Grund zu gehen.
Natürlich kommt das Buch zu keiner Lösung. In einem ewigen Auf und Ab folgt der Euphorie immer wieder die Ernüchterung. So fragt sich der Erzähler, „wieso ich mich trotz der E-Mails, in denen sie mir versichert, stets an meiner Seite zu sein, immer noch so einsam fühle.“ Jede echte Berührung mit einem anderen Menschen, jedes intime Verstehen – das zeigt Bayer in seinem Buch – dauert niemals länger als einen Moment.
Xaver Bayer: Geschichte mit Marianne
Jung und Jung 2020
128 Seiten / 21 Euro
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