Schuldgefühle und Trauerbewältigung – Jasmin Schreiber: Der Mauersegler

Von Meike Bogmaier

Eine hektische Flucht durch Vergangenheit und Gegenwart hat Jasmin Schreiber in ihrem Roman Der Mauersegler zu Papier gebracht. Bei den unerwarteten Kurven und Kunststücken, welche die Handlung immer wieder vollführt, ist es nicht ganz leicht, die Übersicht zu behalten. Gelingt es aber, dem Mauersegler zu folgen, setzt die Geschichte ungeahnte Emotionen frei.

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Jasmin Schreibers Der Mauersegler erzählt die Geschichte von Prometheus und Jakob, superbeste Freunde seit frühester Kindheit. Ein ungleiches Duo, das sich stets zur Seite steht. Solange bis Jakob stirbt. Die Handlung setzt mit Prometheus’ Flucht gen Norden ein und schildert dessen physische Reaktionen auf Übermüdung, Angst und Schuldgefühle mit nichts zu wünschen übrig lassender Deutlichkeit. Ein stilistisches Mittel, das sich durch den ganzen Roman zieht. 

Der Protagonist mit dem ungewöhnlichen Namen Marvin Prometheus Grabow ist Arzt und hat die Daten einer medizinischen Studie gefälscht. Da bei diesem Experiment sein bester Freund Jakob gestorben ist, flieht er nun vor der Polizei. Auf der Flucht in Richtung Dänemark fährt Prometheus solange, bis er zu einem Autostrand kommt, wo er nach einem Zusammenbruch den Entschluss fasst, mit dem Auto ins Meer zu fahren und sich das Leben zu nehmen. Dieser Versuch endet damit, dass er im Schlick stecken bleibt und sich in den Schlaf weint. 

Am nächsten Morgen wird er von einer alten mürrischen Dame gefunden, die ihn zusammen mit ihrer Frau auf ihrem Ponnyhof aufnimmt. Beide Frauen haben etwas Mysteriöses an sich. Nicht nur scheinen sie Prometheus direkt durchschaut zu haben, sondern sie üben auch andauernd seltsame Rituale aus. Letztlich schaffen es die alten Damen, den Protagonisten dazu zu bewegen sich seiner Geschichte zu stellen. Er lässt sich von seinen Eltern abholen, um sich in die Hände der Polizei zu geben.

Wenn man die Handlung so kurz und bündig darstellt, geht sehr vieles vom Tiefgang des Buches verloren. Zum einen ist diese chronologische Abfolge von Ereignissen mit Rückblenden durchzogen, die von der Kindheit der beiden Freunde oder den genauen Abläufen, welche zum Tod Jakobs geführt haben, erzählen. Dadurch entfaltet sich das tragische Szenario, in dem sich der Protagonist verfangen hat, für die Lesenden nur Stück für Stück. Dass er eine (Mit-)Schuld am Tod seines an Krebs erkrankten besten Freundes trägt, wird daher erst in der zweiten Hälfte des Buches wirklich deutlich. 

Wenn beim Lesen die Erkenntnis kommt – Moment, der trauert ja gar nicht nur auf herzzerreißende Weise, sondern ist wahrscheinlich für sein eigenes Schicksal verantwortlich –, ist Prometheus schon kein simpler Charakter mehr. Man kann ihn nicht einfach hassen, auch wenn das Abändern von Daten einer solchen medizinischen Studie und somit das Inkaufnehmen vom Tode mehrerer Patienten verabscheuungswürdiges Verhalten ist. Jasmin Schreiber hat in ihrem Roman zuvor jedoch so viel Mühe darauf verwendet, alle Unsicherheiten, Emotionen und Ängste von Prometheus überaus klar herauszustellen, dass das einzige Gefühl, welches diese Rezensentin ihm entgegenbringen kann, Mitleid ist.

Zum anderen schafft Schreiber es durch viele intertextuelle Verweise außerhalb und innerhalb der Handlung, nahezu jedem ihrer Charaktere eine derartig traurige Hintergrundgeschichte zu stricken. Die Melancholie dieser Geschichte schwappt praktisch mit jeder weiteren Zeile aus dem Buch heraus und gönnt den Lesenden kaum einen Moment Pause. In kürzester Zeit ist es möglich, sich jeder Figur dieser Handlung verbunden zu fühlen, weil die soeben gelesene Anekdote bekannt vorkommt oder schlichtweg betroffen macht. 

Auf jeden Fall scheint es bis auf ein bis zwei Ausnahmen keine schlechten Charaktere in diesem Buch zu geben. Damit wird demonstriert, dass die meisten Situationen und Verhaltensweisen eben nicht einfach als gut oder schlecht zu bewerten sind. Ein Graus für alle Vertreter einer allgemeingültigen Moralvorstellung, welche sich nicht darauf einlassen können, dass das Leben oft Graustufen bedeutet. 

Wären nicht ab und an diese etwas übertrieben wirkenden Einstreuungen von Jugendsprache in den Dialogen, könnte auch ein nicht ganz so emotionaler Mensch von den Gefühlen des Buches überwältigt werden. Allerdings gibt es sie, diese Wörter, die deplatziert wirken. Zu umgangssprachlich, zu jugendlich, zu dramatisch für die Situation und für die Figur, die sie ausspricht. Es wirkt mitunter, als hätte Jasmin Schreiber zuweilen selbst ein bisschen den Faden verloren und wüsste nicht mehr genau, in welcher Zeit sie das Kapitel schreibt und wie alt ihre Figuren zu diesem Zeitpunkt sind.

Alles in Allem ist es etwas schwer einen Einstieg in Der Mauersegler zu finden; und der Plot ist auch nichts für jeden Menschen oder Tag geeignet. Dieses Buch ist keines, was mal eben so weggelesen werden kann, wenn der Wunsch nach einer schönen, leichten Geschichte besteht. Es garantiert einen traurigen Tag für jeden halbwegs empathischen Menschen. Wer allerdings in der Lage ist, sich auf diese Emotion einzulassen und darauf vorbereitet, loszulassen, der wird ein Gefühl von Erleichterung nach all der hervorgerufenen Traurigkeit empfinden.

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Jasmin Schreiber: Der Mauersegler
Eichborn 2021
240 Seiten / 22 Euro

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Foto: PublicDomainPictures / pixabay.com

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