„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“ – Faust und die Faszination des Figurentheaters

Von Pascal Mathéus und Clemens Hermann Wagner

Höllenfahrt und Auerbachs Keller, Walpurgisnacht und Gretchentragödie – alle großen Szenen aus Goethes Faust überführt Karl Huck in seinem Hiddenseer Faust in die Welt des Figurentheaters. Genauer müsste man sagen: Er führt den Stoff zurück an seinen Ursprungsort. Denn als Puppentheater lernte Goethe die tragische Geschichte um den lebenssüchtigen Gelehrten Faust kennen. Und als Puppentheater entfaltet der Stoff denn auch Dimensionen, die im klassischen Sprechtheater verborgen bleiben. Über eine Theatertradition auf der Insel Hiddensee und den faszinierendsten Faust aller Zeiten.

Im Hintergrund ertönt die Schiffshupe einer ablegenden Fähre, als Karl Huck seine Bühne in Vitte auf der Insel Hiddensee betritt. Nach Vorspiel und Prolog im Himmel steht er dort allein und spricht den berühmten ersten Faust-Monolog („Habe nun, ach! Philosophie, | Juristerei und Medizin, | Und leider auch Theologie | Durchaus studiert mit heißem Bemühn. […]“). Als sich dann endlich zeigt, was „des Pudels Kern“ gewesen ist, packt sich der gut sechsmal so große Faust den kleinen Mephistopheles und lässt ihn zappeln. Er selbst hat ihn ja am Haken, meint, ihn aus eigener Kraft herbeigerufen zu haben, während doch längst die göttlich-teuflische Wette über sein Schicksal läuft. Auch im Prolog im Himmel, in dem jene Wette vereinbart wird, zeigt sich bereits der Reiz der Konstellation mit Puppenspieler und Puppe: Huck spielt den großen alten Strippenzieher persönlich, der das Teufelchen in der Hand hält – und dann willentlich von der Leine lässt.

Inniges Verhältnis: Karl Huck und eine seiner Puppen / Foto: Britta Mathéus

Eigentlich, so erinnert sich Huck, habe er den Beruf des Schauspielers letztlich wegen Goethes Weltdrama Faust ergriffen. Die Geschichte des Gelehrten, der an die Grenzen der Erkenntnis stößt, eine unwiderstehliche Sehnsucht nach der Intensität des Lebens verspürt und daher einen teuflischen Pakt eingeht, lernte Huck in seiner Jugendzeit durch eine Theaterinszenierung in Karl-Marx-Stadt kennen. Seitdem beschäftigte ihn dieser Stoff. Und so sollte es schließlich ein Dialog zwischen Faust und Mephisto werden, mit dem Huck an der Schauspielschule Ernst-Busch in Berlin vorsprach. Während die anderen Bewerber einschlägige Dramenmonologe präsentierten, beschloss Huck, es mit einem faustischen Dialog zu wagen. „Die müssen damals sicher gedacht haben, der ist hochgradig wahnsinnig“, vermutet Huck, denn weshalb sollte einer auf die Idee kommen, allein einen Dialog zu sprechen? Doch tatsächlich überzeugte er damit und wurde aufgenommen.

Schnell war ihm klar, dass er sich vollends dem Genre des Puppenspiels als Theaterform verschreiben würde, das damals in Berlin fester Bestandteil der Schauspielausbildung war und an den großen Bühnen der DDR als eine eigene Sparte etabliert war. Nach Stationen als freier Regisseur, Autor und Spielleiter gründete Karl Huck das Figurentheater Homunkulus, zunächst in Berlin und zog dann mit seiner Lebensgefährtin Wiebke Volksdorf weiter auf die Insel Hiddensee. Dort knüpfen sie an eine Puppenspiel-Tradition an: Der Deckenmaler der Hiddenseer Inselkirche in Kloster, Nikolaus Niemeier, lebte von 1918 bis 1934 in Vitte. Mit seiner Puppenbühne verdiente er für seine Familie ein Zubrot. Eintritt damals: eine Kartoffel oder ein Stück Kohle.

Die Begeisterung für das Puppenspiel reicht jedoch noch weiter in Vergangenheit zurück. Galt das Puppentheater lange Zeit als niedere Kunstform, erfreute es sich in der Romantik unter Intellektuellen steigender Beliebtheit. So beschrieb etwa der Arzt und Schriftsteller Justinus Kerner in einem Brief von 1809 seinem Freund Ludwig Uhland seine Faszination für das Puppenspiel wie folgt: „Es ist sonderbar, aber mir wenigstens, kommen die Marionetten viel ungezwungener, viel natürlicher vor als lebende Schauspieler. Sie vermögen mich viel mehr zu täuschen.“ Schließlich habe man im Fall einer Puppe die Puppe und nichts als die Puppe vor Augen, während man sonst auf der Bühne immer einen Schauspieler vor sich sehe, der die Rolle gut oder schlecht spielt, der vielleicht eine berühmte Persönlichkeit ist und außerhalb der Bühne für Skandale sorgt, zumindest jedoch immer durch seine hinter der Rolle liegende reale Existenz ablenken könne. Die Puppen hingegen, schreibt Kerner, „haben kein außertheatralisches Leben, man kann sie nicht sprechen hören und nicht kennen lernen als in ihren Rollen […]“.

Huck in seiner Figurensammlung Homunkulus / Foto: Britta Mathéus

Im Homunkulus kann man sich von diesem Effekt überzeugen lassen. Karl Huck berichtet von Zuschauern, die nach der Vorstellung daran erinnert werden müssen, dass man es eben auf der Bühne mit Holzpuppen zu tun gehabt hat. Es sei nach Aufführungen schon „bitterlich um das Schicksal das Gretchens geweint“ worden. Und auch dem Puppenspieler sind seine Spielpartner auf der Bühne mehr als bloße Gegenstände. Gerade das Gretchen sei „kein Püppchen, das man einfach reinhängt“. Die Puppe misstraute Huck zu Anfang, erzählt er: „Man muss eben als Puppenspieler um diese kleinen Seelen ringen.“

Dass er irgendwann selbst einmal eine Inszenierung von Goethes Faust als Figurentheater erarbeiten wollen würde, war für den Figurentheatermacher nur eine Frage der Zeit. Immerhin ist der Faust-Stoff literatur- und kulturhistorisch mit dem Puppenspiel als eigene Theaterform untrennbar verbunden. Goethe selbst lernte den Stoff als Kind in Frankfurt durch das Figurentheater fahrender Wandergruppen kennen: „die bedeutende Puppenspielfabel klang und summte gar vieltönig in mir wieder“, wird er dazu später in seinen autobiographischen Reflexionen Dichtung und Wahrheit berichten. 

Während der Stoff um den realen Teufelsbündler Faust literarisch erstmals in der Historia von Doktor Johann Fausten 1587 in Deutschland ausgeformt wurde, war es der Engländer Christopher Marlow, ein Zeitgenosse Shakespeares, der den Stoff mit The Tragicall History of Dr. Faustus für die Bühne dramatisierte. Um 1600 gelangte das Drama durch englische Wandertruppen zurück aufs europäische Festland und gehörte bald zum festen Repertoire der Wanderbühnen, die die Faust-Geschichte sowohl mit Marionetten als auch mit menschlichen Akteuren zur Aufführung brachten. Zugleich wollte die englische Fassung an die Bedürfnisse und Erwartungen des theaterungewohnten Publikums in Deutschland angepasst werden und so erfuhr das Drama manche Um- und Fortschreibung. Während die Handlung um Faust und Mephisto, die später auch für Goethes Gestaltung des Stoffes zentral sein sollte, weitgehend erhalten blieb, wurden weitere Szenen ergänzt und etwa ein Spaßmacher, der als Hanswurst und schließlich als Kasper auftrat, fest etabliert. Auch hier begibt sich Karl Huck in eine Traditionslinie, indem er in seiner Version immer wieder einen Kasper auftreten lässt, der gleich mehrere Rollen übernimmt: unter anderem Famulus Wagner, der seinen Meister Faust übertreffen will und einen künstlichen Menschen, den Homunkulus, erschafft.

Pascal, Mephistopheles, Karl Huck, Gretchen, Clemens / Foto: Britta Mathéus

Die Hiddenseer Faust-Version als Figurenspiel greift die unterschiedlichen Facetten des Faust-Stoffes auf. Gemeinsam mit Holger Teschke, der in dieser Produktion Regie führte, eignet sich Karl Huck den Dramentext Goethes an, setzt zugleich eigene Akzente und erzeugt in der Intimität des Figurenspiels einen ganz eigenen Kosmos. Den Faust jedenfalls kann man sich in Zukunft nur noch schwer in einer anderen Darbietungsform vorstellen. Zu sehr scheint die Aufführung mit Puppen in der sogenannten offenen Spieleweise, bei der Puppenspieler und Figurenensemble gemeinsam auf der Bühne stehen, die dem Stoff und dem Goethe’schen Drama gemäße zu sein.

Trotz des Eigensinns der Puppen und dem magischen Anteil des Puppenspiels, von dem Karl Huck überzeugt ist, steckt erkennbar eine ganze Menge handwerklichen Könnens in der Hiddenseer Aufführung. Die Illusion im Homunkulus wird durch die liebevolle Gestaltung der Puppen des Thüringer Puppenbauers Christian Werdin getragen, durch die unverwechselbare Stimme, die Huck jeder seiner Figuren leiht, und durch die passgenaue, aufwendige technische Untermalung mit Musik, Sound- und Lichteffekten, die von Wiebke Volksdorf gesteuert werden. Die Theaterkünstler erzeugen damit in ihrem kleinen Theatersaal auf der Insel eine solch dichte Atmosphäre, dass die gut 60 Minuten ihrer Faust-Inszenierung wie im Flug vergehen.

Doch können die starke Suggestivität, die Immersion und der Realismus des Puppenspiels als Qualitätskriterien gelten? Im Theater kann doch jeder alles mimen und es kommt mit Sicherheit nicht darauf an, so ‚realistisch‘ wie möglich zu spielen. Man könnte außerdem einwenden, dass auch die oben geschilderte explizite Veranschaulichung von Abhängigkeiten und verschiedenen Hierarchieebenen etwas Einfältiges sei, was es eigentlich nicht bräuchte, weil die Phantasie der Zuschauer ausreichend sein sollte, solche Konstellationen mitzudenken. Dieser auf den ersten Blick zutreffende Einwand tritt jedoch angesichts einer weiteren Eigenschaft in den Hintergrund, die das Figurentheater dem klassischen Sprechtheater mit ausschließlich menschlichen Schauspielern voraus hat. 

Kollegen auf der Bühne: Huck und seine Puppen / Foto: Britta Mathéus

Durch die offene Spielweise wird nämlich der ‚Realismus‘ des Puppenspiels ständig gebrochen. Karl Huck, der sich „gleichberechtigt mit den Puppen auf der Bühne“ sieht, spielt im mehrfachen Sinne mit seinen Figuren. Er spielt sie, er spielt mit ihnen und sie mit ihm. Für die Zuschauer wird dadurch ein permanenter Reflexionsstrom angeregt. Der Germanist Rudolf Drux beschreibt diesen Vorzug des Puppentheaters in seinem Buch Marionette Mensch: Die Miniaturbühne „lädt zur Illusion ein und stellt zugleich das Illusionäre aus. Als Medium der Phantasie demonstriert sie ständig ihre mediale Existenz“. Die dadurch erzeugten Reflexionsebenen machen das Theatererlebnis reicher. Der Charakter des Theaters als ernstes Spiel, als partiell durchschaubare und dennoch ergreifende Illusion wird dadurch erkennbar.

Der Stoff des Fausts, die Fragen nach Individualität, Hybris und menschlicher Begrenztheit, werden durch die Möglichkeiten des Puppenspiels perfekt in Szene gesetzt. Das wird besonders deutlich, als die scheinbar feststehende Ordnung durcheinandergewirbelt wird und Mephisto die Kontrolle übernimmt. Als Faust auf eigenen Wunsch verjüngt wird, um dem Gretchen zu gefallen, wird auch die Hiddenseer Faustfigur (Karl Huck) verwandelt. Es findet ein Besetzungswechsel vom Schauspieler zu einer Puppe statt. Das Zusammentreffen der beiden Liebenden ist dann eine der wenigen Szenen, in denen Huck aus der Rolle fällt und bloß noch als Puppenspieler agiert. Er gewährt seinen Puppen Intimität, als er den Vorhang der Puppenbühne schließt und die beiden für einen Moment sich selbst überlässt.

Jedoch kündigt sich darauf schon die nächste Verwandlung an. Huck setzt sich die Maske des Teufels auf und lässt hemmungslos seine Puppen tanzen. Die Autonomie ist vorüber, eine andere Macht hat übernommen. Groß ist die Szene, in der Gretchen vom Wahn ergriffen wird und über die Bühne taumelt und schwebt. In ihrer Verzweiflung ist ihr das Publikum für einen Augenblick ganz nah und man vergisst sogar den Puppenspieler, um schon in der nächsten Szene wieder daran erinnert zu werden, dass die Frage von Eigenverantwortung, Fremdsteuerung, Freiheit und Gefangenheit ein Kontinuum darstellen, wobei das Pendel mal zur einen, mal zur anderen Seite ausschlägt. 

„Greifst du nach dem Donner? Wohl, daß er euch elenden | Sterblichen nicht gegeben ward!“ So hält es Mephistopheles dem Faust an einer Stelle des Stücks entgegen. Hat Karl Huck nicht recht, wenn er sagt, „eigentlich kann das doch nur eine Puppe sagen“?

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Zum Weiterlesen:


J. W. v. Goethe: Faust
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J. W. v. Goethe: Dichtung und Wahrheit
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Foto: Britta Mathéus

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