„Man kann doch Menschen nicht nur nach Geschlechtsteil unterscheiden“ – Marcel Reich-Ranicki und die Frauen

Von Pascal Mathéus

Marcel Reich-Ranicki ist ein toter weißer Mann. Zu Lebzeiten war er für viele Jahrzehnte eine der einflussreichsten Figuren im deutschen Literaturbetrieb. Wer danach fragt, warum Frauen und Männer noch immer nicht zu gleichen Teilen im literarischen Leben der Bundesrepublik repräsentiert werden – und diese Frage wird in unseren Tagen oft und laut gestellt –, landet schnell bei angeblich frauenfeindlichen Patriarchen. Geradezu als Archetyp wird dabei Marcel Reich-Ranicki gesehen. Unwissen und populäre YouTube-Videos tragen bis heute dazu bei, dass sich dieses üble Klischee hartnäckig hält. Eine Klarstellung. 

Am 2. Juni 2020 wäre Marcel Reich-Ranicki 100 Jahre alt geworden. Knapp sieben Jahre nach seinem Tod ist seine Popularität zwar immer noch groß, mitunter aber aus den falschen Gründen. Viele Zeitgenossen erinnern den einst gefürchtetsten und meistgefeierten Literaturkritiker Deutschlands nur noch als den trotzköpfigen Greis, der den Deutschen Fernsehpreis dem versammelten Medienadel des Landes vor die Füße warf. Der inzwischen auch schon verstorbene Roger Willemsen erklärte damals bei Johannes B. Kerner, dass der hehre Bildungsanspruch Reich-Ranickis mit dem Fernsehprogramm unserer Tage einfach nicht zur Deckung zu bringen sei. 

Dieser letzte große Auftritt Reich-Ranickis schien damit zu beweisen, dass der Kritiker längst zu einem Relikt aus vergangenen Zeiten geworden war. Es gelang ihm offenbar nicht mehr, die moderne Welt zu begreifen. Dazu passend schossen sich die Medien in den letzten Lebensjahren Reich-Ranickis darauf ein, sein angeblich völlig antiquiertes Frauenbild in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Mit seiner durchsetzungsstarken, weithin vernehmbaren Stimme, seiner Ämterfülle an den Schaltstellen des literarischen Betriebs, vor allem aber wegen der im höchsten Maße zugespitzten Deutlichkeit seiner literaturkritischen Urteile eignete sich Reich-Ranicki geradezu perfekt für ein klarkonturiertes Feindbild. 

„Hasste Marcel Reich-Ranicki wirklich die Frauen“ lautet der Titel eines über 50.000 Mal geklickten YouTube-Videos, das Frank Elstner vor drei Jahren dort hochgeladen hat. Obwohl Elstner in der Sendung scheinheilig beteuerte, er habe gar nicht gewollt, dass das Thema Reich-Ranicki und die Frauen zu viel Platz einnähme, hat er es später unter dem obigen Titel veröffentlicht. Klar, das Thema zieht. Nicht nur die literarische Welt wird von ihm regelrecht dominiert. Wie aktuell es ist, beweist die große Resonanz für einen langen Tweet der Literaturbloggerin Nicole Seifert vom 12. Mai dieses Jahres. Seifert, die mit ihrem sehr lesenswerten Blog Nacht und Tag im vergangenen Jahr verdientermaßen mit dem Buchblog-Award ausgezeichnet wurde, widmet sich darin einer Sendung des literarischen Quartetts aus dem Jahr 1996.

Besprochen wurde damals unter anderem Verführungen, das Romandebüt der österreichischen Schriftstellerin Marlene Streeruwitz. Um darzulegen, wie „Literaturkritik anno 1996“ funktioniert habe, transkribiert Seifert jene Stellen, die sie für besonders bemerkenswert hält. Reich-Ranicki fragte damals: „Muss ich Bücher lesen, die auf Hunderten von Seiten die Banalität des Lebens darstellen?“ Seifert gibt dazu außerdem zu Protokoll: „(eingeblendet werden mindestens ein halbes Dutzend lachende Männer mit Halbglatze und grauem Anzug)“. Daraufhin antwortete Sigrid Löffler: „Sie sagen, Sie wollen mit diesen Banalitäten nichts zu tun haben, das verstehe ich sehr gut. Sie haben nämlich Frauen, die das für Sie besorgen. Wohingegen die Heldin in diesem Roman es eben selber machen muss und da denke ich, dass sie die Hälfte der Menschheit damit trifft, nämlich die Leserinnen, die das zu schätzen werden wissen, und manche aufgeklärte Männer.“

Seifert zieht folgendes Fazit: „Ich muss sagen, dass mich das Ausmaß, in dem es MRR nicht um Literatur geht, sondern nur um die Lacher und die Selbstinszenierung und darum, Löffler runterzumachen, nachträglich doch überrascht hat.“ Dass es Reich-Ranicki auch um Lacher und Selbstinszenierung gegangen ist, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten. Er selbst hat bereitwillig zugegeben, dass er in der Rolle des Entertainers gern für Literatur geworben hat. Es ist aber ein ungerechter Vorwurf, er habe Löffler und mit ihr auch noch gleich die gesamte Literatur von Frauen heruntermachen wollen. 

Nicht nur war es Sigrid Löffler, die sich bei dieser Gelegenheit eines unstatthaften Mittels bediente, indem sie Reich-Ranicki persönlich angriff. Die Ablehnung einer Literatur, die mehr am banalen Alltag interessiert ist („Sie hatte einen Teil von Gregors Kleidern und Büchern in Schachteln gepackt und in einen Kasten gesperrt. Osterputz musste sein.“) als von den aufs Absolute zielenden Themen Liebe und Vergänglichkeit zu handeln, ist von Reich-Ranicki konsequent betrieben worden und hat gar nichts mit dem Geschlecht der Verfasserin zu tun. 

Hasste Marcel Reich-Ranicki wirklich die Frauen?

Freilich liebte Marcel Reich-Ranicki die Superlative. Er, der zugunsten der Verständlichkeit gern übertrieben hat, wusste sehr genau, dass er sich damit angreifbar machte. Darauf verzichten wollte er trotzdem nicht. Dementsprechend rigoros fiel seine Verteidigung gegen den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit aus, die er im Jahr 2001 in der besagten Ausgabe von Frank Elstners Sendung Menschen formulierte: „Es gibt nicht eine Frau, die gut in deutscher Sprache in diesem Jahrhundert geschrieben hat, mit der ich mich nicht beschäftigt hätte.“ Hört, hört. Ein hoher Anspruch. Wer die Probe macht, wird jedoch verblüfft feststellen: So falsch war die Behauptung damals nicht. 

Nimmt man beispielsweise das jüngst erschienene Buch Dichterinnen & Denkerinnen – Frauen, die trotzdem geschrieben haben von Katharina Herrmann zum Maßstab, das damit wirbt, bisher übersehene Frauen für eine neue Lektüre zu öffnen, lässt sich überprüfen, wie viele von ihnen Reich-Ranicki tatsächlich entgangen sind. Von den zwanzig dort vorgestellten Frauen kommen allein zehn im kurzen Abschnitt über die Rolle der Frauen in der deutschen Literatur in dem gerade wiederaufgelegten Gespräch Reich-Ranickis mit Peter von Matt (Der doppelte Boden – Ein Gespräch über Literatur und Kritik) zur Sprache. Über Autorinnen, die dort nicht berücksichtigt wurden wie z.B. Mascha Kaléko, hat sich Reich-Ranicki zudem an anderer Stelle vernehmen lassen. 

Ihre Qualitäten werden allerdings sehr unterschiedlich beurteilt. Während Reich-Ranicki sich oft lobend über Annette von Droste-Hülshoff, Ricarda Huch oder Ingeborg Bachmann geäußert hat, schätzte er die literarischen Werke anderer Autorinnen weniger hoch ein. Doch auf eines kam es ihm stets an: Die Frage nach den Frauen in der Literatur sollte ausschließlich im Hinblick auf ihre Qualität beurteilt werden. Alles andere hielt er für beleidigend. 

In der Sendung von Frank Elstner echauffierte sich Reich-Ranicki deshalb über die Berichterstattung zur Büchnerpreis-Vergabe an Frederike Mayröcker. Anstatt die Preisträgerin angemessen zu würdigen, wurde in einem Fernsehbeitrag lediglich betont, dass Mayröcker erst die siebte Frau sei, die diesen Preis erhielt. Solches Zählen – es ist heute wieder en vogue – brachte Reich-Ranicki in Wallung: „Es ist ja furchtbar, wir leben ja in einem zoologischen Land.“ Abgesehen davon, dass die im Beitrag genannten Zahlen auch noch falsch waren, polemisierte Reich-Ranicki scharf gegen eine solche Form der Kritik: „Kinder, man kann doch Menschen nicht nur nach Geschlechtsteil unterscheiden (im Hintergrund sind viele schmunzelnde Frauen mit Kurzhaarschnitt zu sehen). Man darf nicht sagen, es haben nur sieben oder neun Frauen einen Preis bekommen, sondern man muss sagen: Eine große Schriftstellerin – Anneliese Müller – hat den Preis verdient und nicht bekommen. So muss man sagen, aber nicht diese Ziffern, das ist doch Blödsinn.“ 

Reich-Ranicki wusste, was es bedeutet, wenn Menschen nach einem willkürlichen Gruppenmerkmal selektiert werden

Sucht man in Reich-Ranickis Biographie nach den Ursachen für diese entschieden ablehnende Haltung, stößt man dabei auf äußerst ernste und schwerwiegende Gründe. Als Reich-Ranicki am frühen Morgen des 28. Oktobers 1938 von einem Schutzmann geweckt wurde, vermutete er zunächst, man habe ihn denunziert. Der Mann überreichte ihm einen Ausweisungsbescheid und nahm ihn zur sofortigen Vollstreckung fest. Als sie bei der Sammelstelle ankamen, traf der damals 18-jährige auf zahlreiche andere Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit. 

Nun wurde ihm die Lage der Dinge klar: „Jetzt begriff ich, daß meine Vermutung falsch gewesen war: Nein, niemand hatte mich verleumdet. Aber ich gehörte einer Gruppe an, die verurteilt war – zunächst nur zur Deportation. Es handelte sich um die erste von den Behörden organisierte Massendeportation von Juden. Ausgewiesen wurden aus Berlin nur Männer, aus anderen Städten auch Frauen: Insgesamt waren es rund 18.000 Juden.“ Die umstandslose Zuordnung zu einer Gruppe, ohne Ansicht auch nur eines einzigen individuellen Merkmals, hat sich Reich-Ranicki als tiefe Negativerfahrung eingeprägt. Die Schlüsse, die er daraus zog, zeugen von seiner unglaublichen moralischen Größe, seiner generösen Bereitschaft zur Versöhnung. 

Denn was er für die jüdischen Opfer ablehnte, wies er auch für das Volk der Täter zurück. In dem in diesem Jahr erstmals veröffentlichten Gespräch mit dem damaligen SWR-Redakteur Paul Assall von 1986 (Ich schreibe unentwegt ein Leben lang – Marcel Reich-Ranicki im Gespräch) äußerte sich Reich-Ranicki mit der für ihn typischen Klarheit zur Frage nach der Kollektivschuld des deutschen Volkes. Er lehnte das Konzept entschieden ab: „Dazu habe ich zu oft erlebt, dass ein Jude irgendwo irgendwas getan hat, und plötzlich saßen alle Juden auf der Anklagebank und wurden dafür verantwortlich gemacht. Es fiel mir schwer, plötzlich das gesamte deutsche Volk für den Nationalsozialismus und den Holocaust verantwortlich zu machen. Schließlich haben wir ja auch sehr bald gewusst, wie viele unzählige Menschen – Deutsche – in diesem Krieg gefallen sind und schließlich auch zu den Opfern Hitlers gehörten und gehören.“

Diese Worte aus dem Mund eines Mannes, dessen Bruder und Eltern genau wie die Eltern seiner Frau von den Deutschen auf brutale Weise ermordet wurden, der selbst diesem Schicksal nur knapp und von jahrelanger Todesangst begleitet entrann – sie klingen unfassbar. Beinahe ein wenig zu nachsichtig für unsere Ohren. Doch wenn Reich-Ranicki einmal zu einem klaren Urteil kam, folgte er seinen Erkenntnissen mit strenger Logik: Genauso, wie er keine Pauschalverurteilung einer Gruppe zuließ, wollte er auch keiner Gruppe von vornherein etwas Positives unterstellen. Ohne Rabatt hieß dementsprechend etwa eine Sammlung von Aufsätzen über Schriftsteller aus der DDR, die der Kritiker 1991 veröffentlichte. Was die Individualität bedrohte, lehnte er ab. Jede Form der ungenauen Verallgemeinerung und der Sippenhaft war ihm vor dem Hintergrund seiner Erfahrung zu tief verhasst. Wer könnte ihm das vorwerfen?  

Die missbrauchte Frau 

Als Elfriede Jelinek 2004 den Literaturnobelpreis erhielt, äußerte sich Marcel Reich-Ranicki darüber im Spiegel. Sein Kommentar war damals Die missbrauchte Frau betitelt. Ein bemerkenswerter, typischer Reich-Ranicki-Titel: einfach und klar – und provokant. Jelinek sei, so fiel sein Urteil damals aus, eine getriebene, bisweilen durchaus stilistisch virtuose Autorin, die aber in ihren Romanen und Dramen insgesamt literarisch kein hohes Niveau erreiche. Zugute hielt er ihr, „dass die Zukurzgekommenen und Benachteiligten, Frauen zumal, ihr Leben wieder erkennen können“. Damit sei sie „eine gesellschaftskritische Schriftstellerin, die der, wie viele meinten, längst überlebten oder überwundenen engagierten Literatur zu neuen Ehren verholfen hat. Ihr Mut und ihre Entschiedenheit, ihre Radikalität und ihre Konsequenz lassen sich kaum überschätzen.“

Reich-Ranicki lehnte im Werk Jelineks dasselbe ab, das er sein Leben lang bekämpft hat: eine Literatur, die ihre politische Botschaft über die Kunst stellt. Weshalb er die Nobelpreisträgerin deshalb für eine „missbrauchte Frau“ hielt, erschließt sich nicht unmittelbar aus dem Spiegel-Text. Es ist aber nicht schwer, es aus Reich-Ranickis sonstigen Äußerungen zu schließen. „Es ist demütigend für Frauen, schwache Arbeiten oder Gedichte zu drucken, nur weil eine Frau es geschrieben hat“, gab Marcel Reich-Ranicki bei Frank Elstner zu Protokoll. Für demütigend hielt er es auch, einer Frau den Nobelpreis zu verleihen, nur weil sie das Leid der Frauen zum Thema ihrer Literatur gemacht hat. Eine Frau, die – wie er meinte – ein eher schwaches literarisches Werk vorzuweisen hat, mit dem höchsten Literaturpreis der Welt auszuzeichnen, nützt der Sache der Frauen aus seiner Sicht eben gerade nicht. Indem man Jelinek für die Moral ihrer Arbeiten auszeichnete, missbrauchte man in der Sicht Reich-Ranickis ihr künstlerisches Werk für eine politische Agenda. 

Mit derselben Überzeugung ging Reich-Ranicki auch an die Zusammenstellung seines Kanons der deutschen Literatur: Einen Text nur deshalb in seinen Kanon aufzunehmen, weil er von einer Frau geschrieben wurde, kam ihm nicht in den Sinn. Im Interview mit Volker Hage gab er zu Protokoll: „Ich bin nicht bereit, einen ermäßigten Tarif wegen Geschlechtszugehörigkeit anzuwenden.“

Frauen dichten anders

Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger veröffentlichte 1996 eine Essay-Sammlung mit dem Titel Frauen lesen anders. Darin widmete sie sich den geschlechtsspezifischen Unterschieden bei der Rezeption von Literatur. Schon 1994 wendete sie sich in einem gleichnamigen Artikel in der Zeit gegen den Anspruch, ausschließlich auf die Qualität eines literarischen Textes zu achten: „Denn sogenannte rein ästhetische Kriterien können auch ein Alibi sein, das einer vorherrschenden Lebensanschauung dient, zum Beispiel der männlichen, indem sie Inhalte, unter dem Deckmantel der künstlerischen Allgemeingültigkeit, einer weiteren Debatte einfach entziehen.“ 

Klügers Anliegen sind von einer erstaunlichen Aktualität. Ganz ähnlich argumentiert auch Nicole Seifert in einem Debattenbeitrag aus diesem Jahr. Schwierig wird es freilich, wenn dieses Argument dazu verwendet wird, um einem anderen Literaturkritiker eine Voreingenommenheit aus opportunistischen Gründen zu unterstellen. Der offene Austausch über Literatur ist dann nicht mehr möglich. Es entstehen stattdessen ideologische Grabenkämpfe.

Auch Reich-Ranicki hat diese Position nicht überzeugt. Dass er sie allerdings gekannt hat, geht aus dem Titel und der Einleitung einer Anthologie von Gedichten weiblicher Autoren hervor, die er 1998 herausgab. Unter dem Titel Frau dichten anders fanden sich darin 181 Gedichte von frühneuzeitlichen Dichterinnen über Annette von Droste-Hülshoff, Else Lasker-Schüler und Ingeborg Bachmann, bis hin zu Sarah Kirsch, Ulla Hahn und Ulrike Draesner. 

Reich-Ranicki bekennt in der Einleitung offen, was er auch früher schon als Missstand klar herausgestellt hatte: „Die den Frauen in der von Männern beherrschten Welt zugewiesene Rolle hat ihnen die Beschäftigung mit allem Geistigen und Künstlerischen in hohem Maße erschwert, ja unmöglich gemacht.“ Dass der sehr erwünschte Blick und die Stimme der Frauen in der Literatur deshalb unterrepräsentiert geblieben ist, hat Reich-Ranicki klar gesehen und als Problem benannt. Ihre Werke deshalb aber nachsichtiger zu bewerten, war seine Sache nicht. Ein solcher Rabatt hätte ihnen aus seiner Sicht mehr geschadet als genützt. 

Die Lyrik sah Reich-Ranicki überhaupt als die besondere Stärke weiblicher Literaten. Es ist dies die andere Seite der Medaille seines berühmten, überspitzten Diktums, Frauen könnten „ums Verrecken“ keine Romane (und auch keine Dramen) schreiben. Was oft vergessen wird: Ausdrücklich betonte Reich-Ranicki, dass dies vor allem für den deutschen Sprachraum gelte. In englischer und französischer Sprache habe es vielmehr eine Vielzahl bemerkenswerter Schriftstellerinnen gegeben. Um Reich-Ranicki weiter richtig zu verstehen, muss man zunächst festhalten, dass er diesen Satz als beschreibend und nicht als wertend verstanden wissen wollte. Eine Erklärung für den Umstand, dass kaum nennenswerte Romane von Frauen in deutscher Sprache vorlägen, konnte und wollte er nicht geben. Außerdem beanspruchte auch dieses Diktum – wie alles, was er von sich gab – lediglich Thesencharakter. Ganz im Sinne des kritischen Rationalismus galt für Reich-Ranicki die Wahrheit seiner Urteile nur solange, bis jemand den Gegenbeweis vorlegte.  

Im Falle der Romane geschah dies in einer Sendung des literarischen Quartetts von 2000. Darin lobte der Kritiker Elke Schmitters Debütroman Frau Satoris in den allerhöchsten Tönen. Besonders imponierten Reich-Ranicki an dem Roman die stilistische Brillanz und die Variation auf das ewige Thema der unmöglichen Liebe. Die Anschaulichkeit des kleinbürgerlichen Milieus schätzte er gar höher ein als in den entsprechenden Werken von Grass. Reich-Ranicki war eben nie ein Dogmatiker. Wenn er zuspitzte, tat er dies, um verständlich zu sein und um zu provozieren. Provokation jedoch nicht als Selbstzweck, sondern im Dienst der Literatur. Er wusste, dass der Streit den Menschen einen Gegenstand erst schmackhaft machen konnte und versuchte sie deshalb auf diesem Wege für die Literatur zu begeistern. 

„Die Liebe und den Tod. Alles andere ist Mumpitz“

Marcel Reich-Ranicki war ein Konvertit. Nicht auf dem Feld der Religion, von der er zeitlebens nichts wissen wollte, sondern in der Literatur. Als er in Polen anfing, als Literaturkritiker zu arbeiten, herrschten dort die Maximen des sozialistischen Realismus. Der kommunistischen Partei galt die Literatur – wie überall im Ostblock – als ein Instrument zur Erziehung der Menschen auf dem Weg zu einem geläuterten, sozialistischen Bewusstsein. Auch Reich-Ranicki glaubte daran, dass Literatur sich auf diese Weise auswirken könne und solle. Seine ersten literaturkritischen Arbeiten in Polen, so schreibt er in Mein Leben, seien eindeutig von der „marxistischen und gewiß auch vulgärmarxistischen Literaturkritik geprägt“ gewesen. 

Wenn er später auf diese frühen Arbeiten zurückblickte, schämte er sich ihrer. Der von Ideologie geleitete Blick musste jede Bemühung um eine ästhetische Würdigung des Gegenstandes durchkreuzen. Aus diesem Blick resultieren eine einfältige Kritik in Sprachschablonen und völlig lächerliche Vorgaben. So wurde er von der Verlagslektorin seiner ersten polnischen Buchveröffentlichung dazu angehalten, pro 100 Seiten mindestens ein Stalin-Zitat einzuflechten. Die unterhaltsame Begebenheit lässt sich in Mein Leben nachlesen. 

Nachdem er sich schon lange von dieser Art der Literaturkritik abgewendet hatte, sah er sich im Zuge der 68er-Bewegung erneut mit dem Ruf nach einer Literatur konfrontiert, die in erster Linie politischen Zwecken zu dienen habe. Reich-Ranicki war nicht der einzige, dem Ähnlichkeiten zwischen den aufmarschierenden Studenten und denjenigen Verhältnissen aufgefallen waren, die die Studenten zu bekämpfen angetreten waren. Wieder hieß es: Parolen statt Gedichte, Moral vor Ästhetik. Nicht mit Reich-Ranicki. 

Die Verquickung von Politik und Literatur war Reich-Ranicki spätestens seit seiner Ankunft in Deutschland zuwider. Ausdrücklich galt dies aber nicht nur für engagierte Literatur von links. So äußerte er sich zu Günter Grass’ israelkritischen Gedicht Was gesagt werden muss aus denselben Gründen entschieden ablehnend. Das Gedicht stellte für Reich-Ranicki ein typisches Beispiel dafür da, wie Lyrik für Botschaften missbraucht und damit ihrem Zweck entfremdet werden konnte. Doch – und auch dabei blieb er konsequent – so ekelhaft wie er das Gedicht fand: Ein Bild darin gefiel ihm. Und er sah nicht ein, warum er das verschweigen sollte: „‚Mit letzter Tinte‘. Das ist natürlich sehr gut.“ Über das Geschmacksurteil lässt sich streiten. Die konsequente Trennung von Moral und Ästhetik leuchtet aber unmittelbar ein. Dass es ihm, dem verfolgten Juden, möglich war, sogar bei einem Gedicht mit antisemitischen Untertönen dabei zu bleiben, nötigt Respekt ab.

Sicher hat Reich-Ranicki an der Grass-Zeile die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod gefallen. Neben dem Tod ließ er nur noch die Liebe als Gegenstand literarischer Kunst gelten. Alles andere hielt er für Mumpitz. Diese Haltung ist ihm häufig als eindimensional ausgelegt worden. Sie führte außerdem zu dem großen Krach mit Sigrid Löffler im Literarischen Quartett. Im Streit über Haruki Murakmis Roman Gefährliche Geliebte, warf Reich-Ranicki Löffler vor, sie habe keinen Sinn für Liebesromane. Keine andere Begebenheit hat wohl Reich-Ranickis Ruf als Frauenfeind stärker zementiert. Auf YouTube ist das Video über 265.000 Mal geklickt worden. 

Abgesehen davon, dass es wieder zuerst Löffler ist, die die Diskussion auf die persönliche Ebene bringt, indem sie Reich-Ranicki und Karasek vorhält, ihre Begeisterung für den Roman könnte wohl etwas mit ihrem Alter (vulgo: ihrer Altersgeilheit) zu tun haben, muss man Reich-Ranickis scharfe Erwiderung vor dem Hintergrund seiner Biographie und der Rolle, die Literatur darin gespielt hat, sehen. Für Reich-Ranicki war die Literatur gesteigertes Leben. Die Liebe, die sich dem Tod in der Literatur oft vergeblich entgegenstellt und am Ende immer den Kürzeren ziehen wird, war für Reich-Ranicki kein Abstraktum. 

Während des zweiten Weltkriegs haben seine Frau und er dieses in einer Intensität zu spüren bekommen wie sie uns heutigen – Gott sei dank! – gar nicht vorstellbar ist. Das schönste Zeugnis dieser Liebe ist die von Teofila Reich-Ranicki abgeschriebene und illustrierte Auswahl aus Dr. Kästners lyrischer Hausapotheke, die sie Marcel im Getto zum Geburtstag schenkte. Gemeinsam über die Liebesgedichte Kästners gebückt, hielten die zwei den Schrecken irgendwie aus und schafften es, zu überleben. Wenn es um die Liebe ging, hörte für Reich-Ranicki jede Spiegelfechterei auf. Dieses Thema war ihm zu ernst. Deshalb die unwirsche Reaktion auf die Totalablehnung eines Buchs, dessen Darstellungen der Liebe ihn tief berührt hat. 

Dass es oft eine Qual gewesen sein könnte, neben Reich-Ranicki im Literarischem Quartett gesessen zu haben – kein Zweifel. Er unterbricht, belehrt, ist oft der Lauteste. Das Geschlecht seiner Kontrahenten hat dabei aber keine Rolle gespielt.

„Er ist der Chef. Aber ich nehme das nicht so ernst.“ 

Schließlich lohnt es sich, auch die persönlichen Verhältnisse Reich-Ranickis noch einmal in den Blick zu nehmen. Wie könnte man seine Beziehungen zu Frauen beurteilen, ohne auf seine beinahe 70 Jahre währende Ehe mit Teofila, genannt Tosia, Reich-Ranicki zu schauen? Aus Reich-Ranickis Autobiographie geht klar hervor, warum die beiden Zeit ihres Lebens unzertrennlich waren: Sie verdankten sich gegenseitig das Leben. So war sie seither stets an seiner Seite, saß bei Lesungen und Fernsehaufzeichnungen in der ersten Reihe und war bei persönlichen Gesprächen häufig die Stichwortgeberin, wenn ihrem Mann etwa ein Name entfallen war. 

Von Reich-Ranickis Freund Walter Jens stammt das Wort, es habe sich bei dem Kritiker um „[d]as unemanzipierteste Mannsbild unter der Sonne“ gehandelt. Vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht. Ihre Rollenverständnisse sind mit unseren heutigen Vorstellungen überhaupt nicht zu greifen. Denn selbstständig im emphatischen Sinne waren weder Reich-Ranicki noch seine Frau. Die beiden hielten noch im hohen Alter Händchen, wenn Sie miteinander spazieren gingen. Hellmuth Karasek hat für diese Verbindung anlässlich des Todes von Teofila Reich-Ranicki im Jahr 2014 berührende Worte gefunden: „[J]eder gab dem anderen Halt, ein Paar, das sich seit dem Kennenlernen im Warschauer Getto unter den bedrohlichsten, schrecklichsten, tödlichsten Umständen immer aufeinander verlassen konnte“. Weil sie zusammen überlebten, bildeten sie eine unzertrennliche Einheit.

Aufschlussreich und sehr berührend war auch, was Reich-Ranicki 2001 in einem Gespräch mit Michel Friedmann über seine Ehe berichtete: „Meinen Sie, dass in diesen 60 Jahren es nie passiert ist, dass ich mich in irgendeine Frau verliebt habe oder sie sich in einen Mann verliebt hat? Vielleicht ist da doch was passiert. Sie haben doch auch Romane gelesen. Also können Sie sich das vielleicht vorstellen.“ Im Hintergrund lächelte Tosia verschmitzt und gütig. Auf dieser Ebene begegneten sich die Reich-Ranickis auf Augenhöhe. 

Doch nicht nur dort. Marcel Reich-Ranicki hat vielfach betont, wie sehr er auch in literarischen Dingen auf den Austausch mit seiner Frau setzte. Golo Mann stellte er das höchste Lob aus, indem er berichtete, seine Frau habe eine Arbeit des Historikers mit dem allergrößten Vergnügen gelesen (nachzulesen in Golo Mann – Marcel Reich-Ranicki – Enthusiasten der Literatur – Ein Briefwechsel). Er gab in der Tat einiges auf ihr Urteil. 

Das schönste Wort über die Ehe der beiden hat aber vermutlich Teofila Reich-Ranicki selbst gesprochen. In einem Fragebogen zum Verhältnis zu ihrem Mann wurde sie nach dessen Rollenverständnis daheim gefragt. Ihre Antwort: „Er ist der Chef. Aber ich nehme das nicht so ernst.“ War Marcel ein Mann des großen Auftritts, bevorzugte Tosia die stillen Töne. Der oft so strenge, mit Autorität auftretende Reich-Ranicki wurde ausgerechnet von seiner eigenen Frau „nicht so ernst“ genommen. Eine tröstliche Erkenntnis, mit der Marcel Reich-Ranicki, humorvoll wie er war, sicherlich gut umgehen konnte. 

Könnte Reich-Ranicki sich geirrt haben? 

In der Aufsatzsammlung Nachprüfung widmet sich Reich-Ranicki der Anekdote von der Veröffentlichung der ersten Erzählung von Anna Seghers. Die Schriftstellerin hatte Den Aufstand der Fischer von St. Barbara unter Verzicht des Vornamens nur unter „Seghers“ publiziert. Prompt wurde sie für das Werk mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet und die Kritiker bewunderten die „harte, ausgesprochen männliche Prosa“. Als dann die zweite Auflage auch den Vornamen der Autorin enthielt, beschreibt Reich-Ranicki die Reaktion der Kritik: „Daß diese Prosa aus der Feder einer Frau stammte, war immerhin eine Überraschung.“  

Leider belässt es der Kritiker bei dieser Feststellung und verzichtet auf weitere Schlussfolgerungen. Stattdessen widmet er sich, seiner Maxime folgend, den literarischen Qualitäten der Erzählung, die er auf bestechende Weise analysiert. Aber hätte er sich an dieser Stelle nicht auch fragen müssen, ob doch etwas dran sein könnte, an dem Vorwurf der ungerechten Behandlung von Frauen im Literaturbetrieb? Ist er sich nicht doch ein wenig auf den Leim gegangen, wenn er sich von jedem Vorurteil gegenüber Frauen freisprach? Oder sah er in dem Fehlurteil der damaligen Kritik über die angeblich männliche Prosa Anna Seghers nur wieder eine unzulässige Verallgemeinerung? Könnte sich Marcel Reich-Ranicki dennoch bei der Beurteilung der einen oder anderen schreibenden Frau geirrt haben? Ganz bestimmt! Er hätte darauf bestanden.  

Foto: Britta Mathéus

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