Von Matthias Fischli
Der Irak dringt immer wieder in unser Leben. In Deutschland, Österreich und der Schweiz liefert ein illustrer Reigen im Irak geborener Autorinnen und Autoren mit großer Regelmäßigkeit Exilliteratur in deutscher Sprache: die Romancière Karosh Taha, die Kriminalautorin und Lyrikerin Susanne Ayoub und der Schriftsteller Usama Al Shahmani, um nur die Wichtigsten zu nennen. Abbas Khider überstrahlt sie alle.
Der Mensch ist ein Rudeltier. Er drängt sich gerne in ein neu eröffnetes Kaufhaus, steht Schlange vor einem instagramtauglichen Sightseeinghighlight und zwängt sich in einem Kultcafé hinter das letzte freie Tischchen. Die Unvorhersehbarkeit des nächsten Massenphänomens lässt manchmal zweifeln, ob die heisenbergsche Unschärferelation nicht doch auch für die Makrowelt gelte. Sind andere vor uns da, fühlen wir uns bemüßigt, nachzuziehen.
Die Gesetze dieser zwischenmenschlichen, beinahe schon gravitativen Kraft verlieren ihre Gültigkeit erst dann, wenn Menschen aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen werden. Geflüchtete finden sich in einer veränderten Situation, einem unbekannten Umfeld, einem anderen Land wieder. In der Literatur schlägt sich diese Extremerfahrung in der Suche nach einer neuen Stimme nieder. Exilliteratur aus dem Irak beschäftigt sich immer wieder mit zwei Themen: der Flucht aus der alten Heimat und der Auseinandersetzung mit der Sprache in der neuen Heimat. Die Genese dieser beiden Phänomene ist leicht nachvollziehbar. Irak ist ein Ausnahmeland: Bis heute gibt es wenige Länder, in denen das literarische Schaffen so stark von der politischen Geschichte geprägt ist wie hier. Für die schreibenden Geflüchteten aus dem Land zwischen den Flüssen gilt dies noch mehr. Die Flucht geht mit einem Welt- und Ich-Verlust einher, der in der neuen Heimat überwunden werden muss. Sonst ist ein würdiges Leben kaum möglich. Die Sprache dient dabei als Eintrittsticket in die frisch betretene Welt.
Nun wehrt sich die deutsche Sprache aber besonders stark gegen eine solche geistig-sozial integrative Funktion. Mark Twain echauffierte sich einmal wie folgt über sie: „Wenn einem Deutschen ein Adjektiv in die Finger fällt, dekliniert und dekliniert er es, bis aller gesunde Menschenverstand herausdekliniert ist. […] Er sagt zum Beispiel:
Singular | Plural | |
Nominativ | Mein guter Freund | Meine guten Freunde |
Genitiv | Meines guten Freundes | Meiner guten Freunde |
Dativ | Meinem guten Freund | Meinen guten Freunden |
Akkusativ | Meinen guten Freund | Meine guten Freunde |
Nun darf der Kandidat fürs Irrenhaus versuchen, diese Variationen auswendig zu lernen – man wird ihn im Nu wählen.“
Noch geistreicher und spitzer über das Deutsche herziehen kann nur Abbas Khider. Nach ausgiebiger Hegel-, Kant- und Heidegger-Lektüre schrieb er Deutsch für alle. Das mit Das endgültige Lehrbuch untertitelte Werk strotzt vor frechen Beobachtungen zur deutschen Sprache und Verbesserungsvorschlägen zu ihrer Vereinfachung. Es entstand als Nebenprodukt aus einem zweiten Werk, das den Titel Palast der Miserablen trägt.
Palast der Miserablen ist eine Fluchtbuch: fliehen vor der Zerstörung der Golfkriege, fliehen vor der Armut, fliehen vor dem zermürbenden Militärdienst. Die Fluchterfahrung liegt Khiders Schreiben zugrunde, ohne dass sie als Motiv in Erscheinung tritt. Die Sprache ist genau und fokussiert, als konzentriere sich der Erzähler, nicht nach hinten zu blicken, sich nicht nach Saddam Husseins Häschern umzublicken. Der Tod lauert überall. Denn: „Die Götter nur wohnen dort ewig bei Šamaš.“
Šamaš, die Sonnengottheit aus dem Gilgamesch-Epos, ist die Namenspatin des jungen Protagonisten Shams, der mit seiner Familie nach Ausbruch des Zweiten Golfkriegs aus dem schiitischen Süden nach Bagdad flüchtet. Sein Heimatdorf hieß Ahlan Dschahannam, „Himmlische Hölle“, die neue Bleibe ist das „Blechviertel“, ein fiktives Quartier hinter der schachbrettmusterhaft angelegten Saddam City, heute Sadr City. Shams’ Familie sichert während der wirtschaftlich schwierigen Zeit des Embargos ihr Auskommen mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten. Der Junge verkauft Tüten, sammelt Müll, investiert in eine Zuckerwattemaschine, endet als Bücherverkäufer. In einem Lesezirkel namens „Palast der Miserablen“ taucht er in irakische Exilliteratur ein und unversehens wird er zu einem Rädelsführer im Verkauf indexierter Bücher. Dass dies nicht gut für ihn endet, erfahren wir anhand der parallel erzählten Folterbeschreibungen, die das Buch durchziehen.
Das Grauen in den Kerkern wird unaufgeregt erzählt, Khider lässt sich stilistisch nicht davon beeinflussen. Das ist eine große Stärke, aber auch eine Schwäche des Buches: Unter dem konsequent durchgezogenen distanzierten Duktus leidet die sprachliche Form- und Stilbildung. Die Erzählung wird bereichert durch sorgfältig vortastende Beschreibungen wie „Friedlich, fast niedlich sieht er gerade aus.“ (über einen eingeschlafenen brutalen Wächter) und verliert an den vielen Stellen, in denen auf ausgelutschte oder schiefe Vergleiche zurückgegriffen wird: „wie ein stolzer Hahn“, wie „eine Giftnatter“ (über Shams’ Großvater), „löchrig wie Kampfstiefel“ (über eine nicht mehr intakte Dorfgemeinschaft).
Sprachlich bringt Palast der Miserablen nichts Neues. Doch die Komposition gefällt: Die Schilderungen des in Saddams Kerkern gefangenen Shams’ kompartimentieren die Erzählung und laden die parallel ausgeführten Alltagsgeschichten aus Saddam City mit Bedeutung auf. Khider zeigt sich bei diesen erneut als begnadeten Erzähler. Es wird deutlich: Palast der Miserablen gibt nicht Zeugnis von einer persönlichen Krise, sondern von der Krise einer ganzen Nation.
Abbas Khider: Palast der Miserablen
Hanser 2020
320 Seiten / 23 Euro
Foto: PublicDomainPictures / pixabay.com
Ein Kommentar zu „„Herzliche Hölle“ – Abbas Khider: Palast der Miserablen“