Von Louisa Schwope
Mit einem durch und durch unkonventionellen Buch hat es die 1985 geborene Schweizer Schriftstellerin Dorothee Elmiger auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. ‚Aus der Zuckerfabrik‘ fällt aus der Reihe – Autorin und Lektor sind sich nicht einmal einig, ob es sich dabei um einen Roman handelt oder eher um einen Recherchebericht. Was ist das Anliegen ihrer Arbeit? Über eine Lektüre so anspruchsvoll wie faszinierend.
Nach rund einem Viertel des Buches beschreibt die Autorin den Ausgangspunkt ihres Projektes: „Und der Sozialanthropologe Sidney Mintz schreibt von einer Art Irritation, die ihn befällt, als er im gleichen Moment die Zuckerrohrfelder und den weißen Zucker in seiner Tasse sieht. Nicht in erster Linie im technischen Sinne, der Transformation wegen, sondern weil im gleichzeitigen Anblick des Zuckerrohrs und des raffinierten Zuckers das Rätsel oder Geheimnis aufscheint, the mystery, so schreibt er, dass eben die Zuckerproduktion Unbekannte über Zeit und Raum hinweg miteinander verbindet. Weil ja der Zucker historisch auf den Plantagen produziert und dann in Europa, auch von den europäischen Lohnarbeitern, konsumiert wurde. Der Zucker ist also ein Motiv oder Ding, ein Rätsel, das immer wieder aufgetaucht ist bei mir in den letzten Jahren.“
In der Ich-Perspektive nimmt Dorothee Elmiger die Leserin mit auf eine persönliche Reise durch Raum und Zeit, immer auf der Suche nach der „Konvergenz verschiedenster Stränge der Geschichte“. Auf rund 250 Seiten springen wir von Schauplätzen in der Schweiz zu solchen in Frankreich, Spanien, der Dominikanischen Republik, Spanien, Deutschland, Haiti und wieder zurück. Die Kapitelnamen sind Ortsbezeichnungen (Plaisir, Bellevue, Montauk, Àvila, Reno), aber auch in Reno finden sich Erzählschnipsel aus der heimischen Umgebung in der Schweiz; die Ortsbezeichnungen geben also nur bedingt Orientierung.
Aus der Zuckerfabrik ist ein Recherchebericht und das Tagebuch zur Recherche in Einem. Das ist herausfordernd, weil sich mindestens zwei Ebenen – Handlungsstrang und Meta-Ebene – beim Lesen permanent überlagern und ohne Ankündigung ineinandergreifen. Deshalb dominiert das Schreiben über die Form, in der das Buch verfasst ist, hier und auch in anderen Rezensionen. Elmiger schreibt in kurzen Absätzen, optisch getrennt durch Absatzmarken. Mancher Rezensent bezeichnet diese Art als „anekdotenhaft“, bzw. als „Anekdoten-Text“. Das lässt vermuten, dass es sich um lose Storys, witziger Art womöglich, handelt, die hintereinander erzählt werden. Es sind aber viel eher Forschungsnotizen, am Ende des Buches wird ein ausführliches Quellenverzeichnis zur Verfügung gestellt. Aus Zitaten zahlreicher externer Quellen stellt die Autorin die wesentlichen Punkte heraus, so als müssten sie schnell notiert werden, bevor man sie vergisst, weil sich gleich der nächste neue Gedanke, eine neue passende Assoziation aufdrängt. Häufig bleiben die Sätze unvollendet. Dies ergibt auf der bildhaften Ebene eine Collage von Zuckerrohrplantagen, der hungernden Teresa von Àvila, der Autorin schlaflos auf der dunklen Treppe in ihrem Elternhaus, Filmausschnitten über den Schweizer Lottokönig Werner Bruni. Gedanklich spinnt das Hirn eine Mindmap: Wie hängen diese Bilder und Textfetzen zusammen?
Das ist auch Elmigers eigene, drängende Frage. Transparent breitet sie ihr Vorhaben immer wieder vor der Leserin aus; häufig in Form eines niedergeschrieben Gesprächs mit „A.“, der das Entstehen des Buches offensichtlich intensiv begleitet hat. Die Zuckerfabrik ist der obsessive, beinahe verzweifelte Versuch, Zusammenhänge der Dinge über Raum und Zeit aufzuzeigen: Raum und Zeit und Ding auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig zu betrachten, immer auf der Suche nach dem verwandten Moment auf einer anderen Ebene. Und der Ausgangspunkt ist eben der Zucker.
Denn der Zucker, wie Sidney Mintz schon beobachtete, hat in seiner Herstellung mit Kapital, Ausbeutung und Sklavenhandel, mit Kolonisation und Begehren zu tun, aber auch mit einem süßen Vergnügen, mit Hunger und Lust. Und diese Komponenten finden sich quer durch die Weltgeschichte an vielen Stellen. Der Atlantik ist dabei ein starkes verbindendes Element, ebenso aber die Ekstase, die Elmiger im Essen, in der Liebe und in der Spielsucht findet.
Je mehr man liest, desto mehr versteht man, wie für Elmiger Ellen West, Werner Bruni und Touissant-Louverture zusammenhängen. Die erste eine Anorexie-Patientin, der zweite ein Schweizer Lottokönig, der dritte ein Haitianischer Revolutionsführer. Und die Spielhölle am Stadtrand von Philadelphia heißt ausgerechnet Sugarhouse? Es ergibt alles einen Sinn; wer sucht, der wird finden und muss oder will unbedingt selbst mehr lesen und recherchieren.
Was das Buch nun von einem reinen Forschungsbericht oder einer ausformulierten Mindmap unterscheidet, und warum Elmiger vermutlich gar nicht anders schreiben konnte, ist ihre Kernerkenntnis, dass sie selbst hoffnungslos verstrickt ist in die Ereignisse, die Personen und ihre Begehren: „Es ist mein Körper, der da liegt, zwischen den verstreuten Dingen anderer, der zutiefst verwickelt ist in alles, was passiert, und das, was ich zuvor als Material abgelegt habe“. Deshalb spielen ihre persönlichen Begegnungen und Träume, ihre Liebe und Sehnsucht zu dem nur anonym benannten „C.“, ihre Eigenwahrnehmung als weibliche Schriftstellerin einen zweiten Erzählstrang. Alles ist verwoben durch ihren Körper.
Dieser Argumentation folgend könnte (oder müsste?) jedes Buch so geschrieben werden – als permanentes Wechselspiel zwischen ‚eigentlichem‘ Handlungsstrang und Meta-Ebene. Denn jeder Autor steht durch seinen eigenen Körper und sein eigenes Erleben in einer besonderen Beziehung zu seiner Erzählung, es gibt keine Objektivität. Zum Glück wird nicht jedes Buch so verfasst, möchte man fast sagen, denn: Es ist Arbeit, dieses Buch zu lesen, unentwegt am Assoziieren, Verknüpfen, Sich-Erinnern-Müssen (im Sinne von Dran-Denken-Müssen, Nicht-Vergessen-Dürfen), Nachschlagen. Es ist sprachlich nicht übermäßig anspruchsvoll, aber durch die Fülle an verarbeiteten Informationen ist es stilistisch eine „völlige Überfrachtung, eigentlich eine Zumutung“, wie Elmiger selbst weiß. Es ist eine Wasserrutsche im Erlebnisbad, nun aber durch die Gehirnwindungen der Autorin. Nachts. Schnelle Kurven, das Tempo lässt Blicke und Erkenntnisse nur schlaglichtartig zu. Der klassische Effekt tritt ein, wenn man raus ist aus der Rutsche, wieder im Becken schwimmt: nochmal! Wer sich von Elmigers Drive erfassen lässt, dem blüht ein wahnsinniges Wasserrutschen-Leseerlebnis, eine faszinierende, persönliche, bild- und lehrreiche Reise, die dank der nüchtern-knappen Art der Autorin berührende und humorvolle Momente bereithält.
Aus der Zuckerfabrik ist ein Abenteuer, ein Strom. Wie kann man so ein Buch zu Ende bringen? Bei genauerer Betrachtung und mit zunehmender Tiefe ist eben tatsächlich alles irgendwo miteinander verbunden: oben und unten, vorher und nachher, Haben und Haben-Wollen. „Wenn du glaubst, es gebe ein Ende, täuschst du dich“. Anders als der eingangs zitierte Sidney Mintz schreibt Dorothee Elmiger zum Glück keinen anthropologischen Forschungsbericht mit Schlusswort und Fazit. Sie findet ihre eigene künstlerische Form, als lyrische Ethnologin und Monteurin einer Collage. Das ist Kunst!
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik
Hanser 2020
272 Seiten / 22 Euro
Foto: 955169 / pixabay.com
Ein Kommentar zu „In alles Leben gierig hineinbeißen – Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik“