Familiendemo – Katrin Seddig: Sicherheitszone

Von Louisa Schwope

„Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“: Wer kennt das Zitat Ödon von Horvaths nicht auch von Postkarten, Sprüche-Kalendern und T-Shirts und hat beim Lesen vielleicht leise gelächelt. Keiner der Charaktere in Katrin Seddigs G20-Roman ‚Sicherheitszone‘ würde solch ein Shirt in der Öffentlichkeit tragen. Von Horvaths Worte scheinen ihnen aber auf die Bretter vor ihren Köpfen geschrieben zu sein. So wie vermutlich den meisten von uns.

Hamburg im Sommer 2017. Die Stadt ist heiß, weil es zur Abwechslung mal nicht permanent regnet, aber auch, weil der anstehende G20-Gipfel die Gemüter erhitzt. Die Familie Koschmieder – Großmutter Helga, die Eltern Natascha und Thomas mit ihren Kindern Alexander und Imke – leben in Marienthal, einem wohlhabenden Stadtteil im Bezirk Wandsbek. Von außen betrachtet scheint alles in Ordnung zu sein, in der Stadt wie auch in der Familie. 

Da ist zunächst Helga Koschmieder: Kriegsgeneration, nun in Rente. Sie lebt in einem gelangweilt-sicheren Rhythmus im Kreis und Haus der Familie. Sie genießt diese Heimat, wenn sie nicht gerade die Erinnerungen an ihre Jugend einholen – verbunden mit der Frage, wie es wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte. „Aber sie sagten nichts. Nie sagten sie was“, denn am erstrebenswerten, so predigt sie, ist es, anständig, sauber, und ohne Schande zu leben.

Das scheint ausgerechnet Helgas jüngstem Sohn Thomas nicht zu gelingen. Nach erfolglosem Studium hat Thomas den Antiquitätenhandel des mittlerweile verstorbenen Vaters übernommen. In einer Midlife-Crisis entscheidet er sich, die Familie für eine junge Lehrerin an der Schule seiner Tochter Imke zu verlassen, bzw. nicht richtig zu verlassen, aber immerhin in die Einliegerwohnung über der Garage zu ziehen. Demzufolge lebt er wesentlich in den familiären Strukturen und wäre ohne sie aufgeschmissen, will ihnen aber zugleich entfliehen. „Aus der Opferrolle herauskommen!, hat er auch in das gelbe Notizbuch geschrieben. Aber wie?“

Diese Einliegerwohnung hatte sich eigentlich einst Thomas’ Noch-Frau Natascha ausgebaut, „ein anderes Leben in einer hellen, klaren Wohnung, darum ging es. Eine Option.“ Nun wohnt dort ihr Mann, der sich von ihr getrennt hat. Natascha ist eine aktive Mutter (gewesen), die den Haushalt schmeißt und ihrer Arbeit in der Museumspädagogik gern nachgeht. Sie war mit der Hochzeit in das Haus der Familie Koschmieder gezogen, um mit Thomas eine Familie zu gründen.

Die Familiengründung verlief nicht komplikationslos, sodass die Eltern sich dazu entschieden, einen Sohn zu adoptieren. Alexander ist Polizist und schwul. Von letzterem weiß niemand etwas, auch nicht sein Kollege Simon, in den Alexander verliebt ist. Als Polizist tut er in erster Linie seine Pflicht, von deren Rechtmäßigkeit er sich aber ab und zu mit großen Anstrengungen selbst überzeugen muss. „Aber in der Polizei gehört er dazu, selbst jetzt, auf der Straße gehört er zur Demonstration, auch wenn er selbst kein Teilnehmer ist. Er gehört dazu wie die Rückseite eines Gegenstandes zur Vorderseite.“ Er sehnt sich nach Gerechtigkeit und seinem Platz in der Welt, aber allein schon einen Platz in der eigenen Familie zu finden, an dem er sich wohlfühlt, gestaltet sich als schwierig.

Das hat unter anderem mit der jüngeren Imke zu tun, Alexanders Schwester. Imke ist 17 Jahre alt und schließt sich ihren neuen Freunden von „Jugend gegen G20“ an. Auf dem Weg des Erwachsen-Werdens sortiert sie aus, was nicht mehr zu ihr passt und entscheidet sich, auszuziehen. „Unangreifbar ist sie, entschlossen, stark. Sie fühlt sich sogar richtig kalt und böse. Sie will überhaupt keine Gefühle. Diese ganzen dampfenden, schmierigen Gefühle in dieser dampfenden, schmierigen Küche.“ Und trotzdem rollen die Tränen beim Auszug. Die komplizierten familiären Bande erscheinen ihr verlogen, in ihrer neuen Rolle als Aktivistin ‚darf’ sie nicht mehr mit großzügigem Taschengeld in Marienthal leben. Das lässt sie ihre Familie spüren.

Katrin Seddig gießt diese Mischung aus sozialen Beziehungen in das Feuer namens G20-Gipfel, und eines ist von vornherein klar: Die Mischung ist reaktiv. Alexander sieht sich selbst hilflos in massive Demonstrationen geworfen, in denen er seine Kollegen in grenzwertigen Situationen (aktiv wie passiv aggressiv) erlebt. Imke geht es ähnlich, aber auf der anderen Seite der Front; ihr Freund wird mit einem Schlagstock von einem Polizisten niedergeschlagen. Thomas meint, die Lücke füllen zu müssen, die durch ihn selbst in seiner Familie hervorgerufen wurde, und sucht Imke in väterlichem Verantwortungsgefühl auf einer Demonstration. Er macht erste Erfahrungen mit Tränengas und fühlt eine große Wut gegen den Staat, sich selbst, gegen alle. Natascha sucht die Selbstbefreiung in einer Kunstaktion, und Helga versteht schlichtweg die Welt nicht mehr.

Dass diese Gleichung so aufgeht, liegt an der Art Seddigs, ihre Charaktere zu zeichnen. Sie übernehmen die Aufgabe, jeweils einen Stereotyp abzubilden; Seddig betreibt mit ihnen Milieustudien. Zwar haben die Protagonisten zahlreiche innere Zweifel, doch selbst in diesen sind sie stereotyp. Als beispielsweise Thomas sich fragt, an welcher Stelle er für welche Werte eintritt und ob er sich politisch mehr engagieren müsste, kommt er zu dem Schluss „Es gibt doch keine Revolutionen mehr. […] Die Welt ist rettungslos verloren. Leben muss man.“ Es entsteht der Eindruck, als würde Seddig ihren Protagonisten Weltanschauungen unterjubeln; sie provoziert Haltungen und pikst nach. 

Wie tut sie dies? Die Erzählperspektive wechselt in jedem Kapitel, und Seddig schlüpft in die Herzen und Gemüter von Alex, Imke, Thomas, Helga und Natascha. Intensiv reflektieren die Charaktere sich selbst. Das macht ihr Handeln stark nachvollziehbar, lässt ihr Denken und Handeln aber auch durchschaubar, teilweise wenig überraschend werden. Der Klappentext fragt noch: „Wer erzählt die richtige Geschichte? Und ist das eigentlich die Frage, auf die es ankommt?“, und es wird schnell klar, dass die Antwort darauf „nein“ lautet. Die teils überzogene Herausarbeitung allzu menschlichen Denkens und Handelns hat in seiner Entblößung natürlich durchaus unterhaltsamen Charakter (‚funny because it is true’). Auf die Dauer kann es allerdings dazu führen, als Leserin in einer Mischung aus Gelangweilt- oder Genervt-Sein den Protagonisten zurufen zu wollen: Na dann mach doch! Sag den anderen, was du wirklich denkst, zeig dich von deiner wahren Seite! Raus aus deiner Sicherheitszone!

Denn: Alle Charaktere sind in ihren eingeübten Rollen gefangen, und sie können sie zu gut auswendig, als dass eine Improvisation auf der Bühne des Lebens so einfach gelänge. Im Kern sind sie unglücklich. Im Laufe der Geschichte versucht jeder auf seine Weise einen Ausbruch (Trennung vom Partner, Auszug, Tod). Wirklich zufrieden stimmt das mich als Leserin nicht. Warum? Weil selbst der Ausbruch in seiner Ausformung so zu erwarten war. Insofern ist die größte Kritik an „Sicherheitszone“ die Erwartbarkeit der Geschichte wie auch schon Nora Noll in ihrer Rezension für die SZ festgestellt hat. Die Erlösung aus all den vertrackten Beziehungen kann ähnlich wie bei Juli Zeh in Unterleuten nur der große Knall, eine Explosion sein, beispielsweise des Familienzusammenlebens. Ein Reparieren, ein Kitten, würde die leise und laut vorgetragenen (R)evolutionsmaßnahmen jedes einzelnen Protagonisten zunichte machen, ein Kompromiss gäbe möglicherweise eine langweilige Geschichte. Die Milieustudien von Juli Zeh wiederum schillern durch ihre regenbogenartig vielfältige Darstellung der Charaktere. Wo bei Zeh die Farben ineinander übergehen, bleiben es bei Seddig voneinander getrennte Farbblöcke. 

Der eigentliche Anlass der Geschichte, nämlich das politische Ereignis G20-Gipfel, schlägt sich in der Politisierung und der Suche nach einem eigenen Standpunkt jedes Familienmitglieds auf seine Weise nieder. Insbesondere verortet sie die Suche nach der eigenen Rolle in der Gesellschaft aber in der Suche nach der Beziehung zu sich selbst, und insofern ist Sexualität und Körperlichkeit ein zentraler Kampf- und Schauplatz. Die Eltern beginnen Affären, Helga trauert heimlich der Tatsache nach, dass sie nie eine hatte, Imke hat mit ihrem ersten Freund ihr erstes Mal und Alexander versucht, seine Homosexualität nach außen zu vertuschen. Seddig hat es drauf, klare Charaktere zu zeichnen, sie in ihrem Scheitern zu entlarven, und findet dafür schöne, kreative sprachliche Bilder. Somit macht das Lesen über weite Teile Spaß.

Ein großer politischer Roman ist „Sicherheitszone“ deshalb nicht. Der politische Erkenntnisgewinn der Leserin wie auch der Protagonisten selbst kommt über deren Engstirnigkeit nicht hinaus. Der G20-Gipfel ist Hintergrund und Kulisse für einen Familienroman, in deren Zentrum vermutlich eine ganz normale Familie steht.

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Katrin Seddig: Sicherheitszone
Rowohlt 2020
464 Seiten / 24 Euro

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Foto: Louisa Schwope

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