Von Pascal Mathéus
Eckhart Nickel ist mit seinem Romandebüt ein großer Wurf gelungen. ‚Hysteria‘ glänzt vor allem durch seinen kunstvoll arrangierten Aufbau. Es verblüfft mit immer neuen fürchterlichen Details einer totalitären Zukunft und berührt mit den Widrigkeiten einer Liebe in Zeiten der Ökohysterie.
„Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“ Hysteria beginnt mit einer banalen Feststellung. So oder so ähnlich könnte einem der Satz täglich im Alnatura oder auf einer Party unter ernährungsbewussten Studenten begegnen. Überhaupt stellt ein Satz über ein Lebensmittel (noch dazu über das Superfood Himbeere) heute die kleinstmögliche Überraschung dar: Jeder redet ständig vom Essen. Hypersensibel widmet sich der aufgeklärte Deutsche im Jahr 2019 keinem Thema mit einer größeren Aufmerksamkeit als der Ernährung. Alle Aspekte werden abgeklopft. Auf der egoistischen Seite sind dies die Gesundheit und Ausgewogenheit (bei Attila Hildmann auch noch der Genuss, aber das scheint nebensächlich zu sein), auf der altruistischen geht es um CO2-Bilanz, Nachhaltigkeit, Fair Trade.
Wie Eckhart Nickel aus dieser Banalität eine geradezu körperlich spürbare Bedrohung erwachsen lässt, ist genial. Es werden zu Beginn mehrfach Hinweise gestreut, die den Schluss nahelegen, die Hauptfigur Bergheim verlöre den Verstand. Doch während die Handlung voran schreitet, wird nach und nach begreiflich: Die Bedrohung ist echt. Und Bergheims Beunruhigung ist es auch. Ja, befände er sich tatsächlich auf dem Weg in den Wahnsinn, es wäre eine verständliche Reaktion auf die Gesellschaft, die Nickel in seinem Buch entwirft. Sein hintergründiges Spiel mit Andeutungen, Abstrusitäten und unsicheren Bewusstseinszuständen fesselt. Nickel ist ein Schwarzer Romantiker von Format, der dem Vergleich mit seinen Vorläufern aus dem 19. Jahrhundert locker standhält.
Bergheims Suche nach dem Grund für die ungewöhnliche Färbung der Himbeeren bringt ihn auf die Spur eines Forschungsinstitutes, in dem an der Wiederherstellung der Natur in ihren ursprünglichen Zustand gearbeitet wird. Inspiriert durch die von Studenten gegründete Bewegung des ‚spurenlosen Lebens‘ bedeutet dies vor allem, jeden menschlich verursachten Eingriff in die Natur zurückzunehmen – so, als wäre die Art homo sapiens selbst kein Teil von ihr, sondern ein Widersacher.
Durchbrochen werden Bergheims Recherchen durch Rückblenden in seine Studienzeit. Hierdurch verdeutlicht sich das Bild von der Welt, in die Nickel seine Figuren gestellt hat.
Immer striktere Verbote begrenzen die Freiräume und beschreiben so den Weg in eine Öko-Diktatur. Nun erst wird dem Leser begreiflich, wie Bergheim zu jenem Sonderling am Abgrund des Wahnsinns wurde: Seine Vergangenheit birgt die Erinnerung an eine komplizierte Vierecksgeschichte zwischen ihm, zwei Kommilitonen und einer Buchhandlungsangestellten, die auf ihre je eigene Weise auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren. An entscheidenden Wendepunkten der Geschichte tauchen sie später alle wieder auf und bringen den ohnehin schon angeschlagenen Bergheim zusehends aus der Fassung.
Natürlichkeit versus Künstlichkeit, Echtheit versus Falschheit, Wahrheit versus Lüge. Dies sind die Gegensätze, um die der Text kreist. Ihr prekäres Verhältnis festzustellen, ist eine Binse. Doch wie in Hysteria mit ihnen jongliert wird, ist ein intellektuelles Vergnügen. Auf jeder Seite sind die Widersprüche präsent, wird ihnen ein neuer origineller Aspekt abgerungen und trotzdem geschieht dies weder eintönig noch aufdringlich.
Das Buch ist voll von Anspielungen auf Phänomene der Pop- und Hochkultur. Die Hinweise sind mal klar und einfach zu dechiffrieren, mal undeutlich und unsicher, wenn sich eine Figur in den Pfaden ihrer Erinnerung verirrt. So ist das erinnernde Ich als denkender und wahrnehmender Urheber der Welt ständig gegenwärtig. Sein begrenztes Fassungsvermögen und sein subjektives Urteil erzeugen das, was wir Wirklichkeit nennen. Hysteria ist ein Roman von hohem philosophischen Rang – doch das beste ist: Das macht gar nichts!
Die Momente der Reflexion sind derart subtil in die Geschichte verwoben, dass sie niemals geziert wirken. Das akademische Milieu mit seinen etwas eitlen, etwas verträumten Protagonisten ist so glaubwürdig und die reale Ökologisierung des Alltags bereits so weit vorangeschritten, dass man Nickel bereitwillig Schritt für Schritt in die immer aberwitziger auftrumpfende Dystopie folgt.
Wie die beiden letzten Romane von Michel Houellebecq ist Eckhart Nickels Buch einem aktuellen politischen Thema gewidmet. Die ökologische Zukunft wird in Deutschland mit derselben Intensität diskutiert wie der Islam oder die Verelendung der Landwirte in Frankreich. Doch Hysteria ist ebensowenig wie Unterwerfung oder Serotonin ein politischer Roman. Er sagt nicht die Zukunft voraus und will auch nicht vor ihr warnen. Natürlich ist die Errichtung einer Öko-Diktatur kein realistisches Szenario (genausowenig wie die Wahl eines islamistischen Präsidenten oder eines bewaffneten Bauernaufstands in Frankreich), sie rumort aber in unseren Köpfen und existiert als Utopie fanatischer Naturbewahrer, denen für den Schutz der Schöpfung kein Preis zu hoch scheint.
Nickels Roman ist vielmehr ein engagiertes Plädoyer für die Sinnlichkeit und die Bewahrung der Menschlichkeit. Dies ist ein genuin literarisches Projekt, das dem oft technokratischen und inhumanen Denken, Reden und Handeln der Politik diametral entgegengesetzt ist.
Das Buch ist eine Wohltat für diejenigen, die einen unaussprechlichen Widerwillen gegen das aufdringliche Sendungsbewusstsein der angeblich überlegenen Moral jener Ökohipster verspüren, deren verderbliches Potential Nickel in Hysteria aufspießt: Sie sind in ihrer monothematischen Engstirnigkeit bestenfalls unpolitisch, schlimmstenfalls gefährliche Menschenhasser. Man wünscht sich für das Buch mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit, wie sie Michel Houellebecq für seine Romane erfährt.
Eckhart Nickel: Hysteria
Piper 2018
240 Seiten / 22 Euro
Mein Vater würde sagen: „Himbeeren? Die wachsen dahinten am Strauch.“
Superfood, Attila Hildmann, Bergheim. Die ersten zwei sind tolle Überschrifte für den ‚besseren‘ Massenkonsum, der hintere zeigt auch nur, dass der Weg zum Berghain gar nicht weit ist. Ob die typischen (Zeit-)Klischees, die hier angesprochen werden, wirklich gut zum Tragen kommen, dann bitte, aber ob ich das Buch lesen werden, davon gehe ich nicht aus.
– Oder? Vielleicht doch, wenn das Wasser sauer ist und die Winde immer stürmischer werden. Kann ja sein, dass mich das auch noch betrifft. – Dann habe ich wenigstens was zum Lachen.
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Vielen Dank für Ihren Kommentar!
Ihr Vater geht eben vermutlich auch nicht ins Berghain. Genau um diesen Typus Hipster geht es Nickel aber. Im Buch wird übrigens keineswegs gegen so etwas wie ‚Grüne Ideologie‘ geschossen. Es zeigt, wie aus ursprünglich wohlmeinenden Motiven zuerst ein Fetisch, dann ein Totalitarismus wird. Zum Lachen ist das eigentlich nicht. Aber ich bin gespannt auf Ihre Leseeindrücke!
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Sehr interessant, schön zusammengefasst!
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