Beim Hinauf- und Hinabfahren der Alb – Bov Bjerg: Serpentinen

Von Pascal Mathéus

Im FAZ Bücher-Podcast bereits vor seinem Erscheinen gehypt, in der ZEIT gefeiert, von Denis Scheck für seine außerordentliche sprachliche Qualität gelobt: ‚Serpentinen‘ ist das Buch der Stunde. In der Tat beeindruckt der Roman mit seinen Innenansichten aus der Seele eines verzweifelten Mannes, der aus Furcht vor Selbstmord über die Tötung seines Sohnes nachdenkt. Doch der mit heißem Furor vorgetragene Rundumschlag des leidenden Helden gegen eine durch und durch verdorbene Welt erweist sich als enttäuschend eindimensional. 

Wir kennen den Ich-Erzähler in Serpentinen bereits aus Bov Bjergs Erfolgsroman Auerhaus. Der Abiturient, der damals mit ein paar Freunden in eine WG zog, um den Tod des depressiven Frieder zu verhindern, ist nun erwachsen geworden. Spielte sein eigenes Schicksal neben dem vor dem Abgrund stehenden Frieder in Auerhaus eine eher untergeordnete Rolle, wird im neuen Roman seine gesamte Existenz bis in die Tiefen des Bewusstseins und – was dasselbe zu sein scheint – der Vergangenheit ausgelotet. 

Er ist nun Professor für Soziologie, geschieden und Vater eines Sohnes. Vor allem die Vaterrolle beschäftigt ihn. Denn es scheint ein Fluch auf den Vätern der Familie zu liegen. Urgroßvater, Großvater und Vater: Alle nahmen sie sich das Leben, ließen die Söhne zurück, beluden sie mit Schuld und bestimmten so ihr Schicksal. Diese geradezu mythische Serie der Gewalt will der Erzähler beenden. Er kämpft gegen das, was er als seine Bestimmung ansieht, gegen den „Schwarzen Gott“. Der Leser begegnet diesem geschundenen Menschen und seinen düsteren Gedanken zu dem Zeitpunkt, als er die Tötung seines Sohnes für die einzige Möglichkeit hält, den Bann zu durchbrechen. Er soll es einmal besser haben, was in der gestörten Logik von Bjergs Romanfigur dann gelingen könnte, wenn er nicht mit einem Selbstmörder-Vater aufwachsen müsste.

So weit so finster. Von der Leichtigkeit und dem Humor, der Auerhaus zu einem so großen Erfolg gemacht hat, ist in Serpentinen nicht viel übriggeblieben. An seiner Stelle stehen der abgezockte Zynismus und der Fieberwahn eines Menschen, der nah daran ist, den Kampf aufzugeben. Er hat seinen Ausbruchsversuch bereits hinter sich. Als erster seiner Familie absolvierte er ein Studium, brachte es zu einem geachteten und erfolgreichen Professor und spürte in der akademischen Blase doch stets den Mangel seiner Herkunft, litt an der Vergröberung der Menschen und Welten, die ihnen jede Wissenschaft antut. Alles, was er hinter sich lassen wollte – das Bier, das Brüllen, die Besuche der Polizei –, holte ihn und seine Familie wieder ein. 

Der Roman erzählt all dies in Rückblenden. Er erstreckt sich lediglich über die Dauer eines Vater-Sohn-Urlaubs auf der Schwäbischen Alb. Es ist die alte Heimat des Vaters und die Serpentinen, die sie hinauf- und hinunterfahren, gleichen den Schlangenlinien seines in die Vergangenheit gerichteten Bewusstseins, das nach den Ursachen seiner Misere bohrt. 

Solange das Buch bei seinem tragischen Grundkonflikt bleibt und von der am Abgrund stehenden Beziehung des Vaters zu seinem Sohn handelt, ist Serpentinen ein aufregender, ein mitreißender Roman. Zur nervtötenden Geschwätzigkeit neigt das Buch jedoch, sobald der Held seine Gedankenbahnen auf die Vergangenheit lenkt. Verwirrend wirkt schon die Vielzahl der Themen. Warum muss sich der Erzähler zu allem und jedem äußern? Über Wirtschaftsjournalisten und Geschäftsleute, über die akademische Blase, die böse Kirche, ja, sogar über Möbelmärkte. Und alles soll irgendwie mit Nazis zu tun haben, soll verbunden sein mit einer nicht auszurottenden Tendenz alles Deutschem zum Faschismus. Dabei weiß der Erzähler, dass seine Neigung, überall Nazis zu sehen, eine Obsession ist. Sein Anliegen ist es aber, anhand seiner Beschreibungen zu beweisen, dass er richtig liegt. Er schafft es wohl, sich selbst zu überzeugen, nicht zwangsläufig aber den Leser des Romans (jedenfalls nicht den Verfasser dieser Zeilen).

Einzelne präzise Beobachtungen und Beschreibungen, die beispielsweise das Gehabe mancher Wissenschaftler treffend einfangen – wobei sich bei seiner Akademikerschelte die Klassengesellschaft im Zentrum der Kritik befindet –, stehen einem Übermaß an mehr oder weniger geordneten Banalitäten gegenüber, für die kein Ziel erkennbar ist. Die Sprache leidet unter ihrem zynischen Witz, der weder als heißer Hass noch als kühle Analyse produktiv wäre. Sie ist in ihrer enttäuschten Abgeklärtheit erstarrt und bringt dadurch schwer erträgliche Schenkelklopfer und alberne Wortwitze hervor. Man kennt diese Witze. Hat sie schon in Reportagen gelesen oder in der heute Show oder der Anstalt gehört.

Verstimmt wird der Leser am Ende durch die wenig kaschierte politische Agenda, die Bjerg seinem Roman untergeschoben hat. Sie wird sichtbar, wenn sich der Held einmal wieder selbst für die richtige Erziehung lobt, die er seinem Sohn zuteilwerden lässt. Dass er ihm beigebracht hat, das helle und das dunkle Legomännchen nicht schwarz und weiß (sind Legomännchen nicht eigentlich gelb?) zu nennen, indem er ihnen von Anfang an Namen gegeben hat, wird zur Utopie einer Gesellschaft ohne alle Unterschiede aufgeblasen. Dies, so muss man es im Kontext des Romans verstehen, wäre die einzige Möglichkeit, um mit der Misere aufzuräumen, in der die Nazi-Gesellschaft von heute steckt. Da sie aber für die Depression des Helden verantwortlich zu machen ist, wäre es also auch die Lösung für sein Problem. Das scheint nicht nur politisch einfältig, sondern auch abträglich für die ästhetische Wirkung eines Romans. Eindimensionalität ist langweilig. 

Möglich, dass diese eingeschränkte Perspektive notwendig zur Depression gehört, unter der der Erzähler leidet. Möglich, dass daraus auch seine wahnhaften Ideen zu rechtfertigen sind. Lesen möchte man es deshalb trotzdem nicht. So interessant das originelle Grundmotiv des Romans ist, so enervierend ist sein kruder Überbau. Zusammen mit den Ausfällen der Sprache ist Serpentinen nicht mehr als ein durchschnittlicher Roman. 

Bov Bjerg: Serpentinen
Claassen 2020
272 Seiten / 22 Euro

Foto: j4sonp / pixabay.com

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