Vom Suchen und Finden der Liebe – Martin Mosebach: Krass

Von Pascal Mathéus 

Der Respekt vor dem Schriftsteller Martin Mosebach ist genauso groß wie der Vorbehalt gegen seinen ästhetischen und politischen Konservativismus. Das zeigt sich in den Kritiken, die bisher zu seinem neuen Roman ‚Krass‘ erschienen sind. Sie changieren zwischen Bewunderung und lässiger Missachtung von dem, was sie als Mosebachs literarische Kabinettstückchen in den Griff zu bekommen versuchen. Die Kritik ist so sehr damit beschäftigt, dem Büchner-Preisträger nicht auf den Leim zu gehen, dass sie das Wichtigste übersieht: ‚Krass‘ ist ein großer Roman über die Liebe. 

Wenn es Mosebach mit seinem neuen Roman darum gegangen sein sollte, die Kritik vorzuführen, dann ist ihm das bestens gelungen. In vielen ihrer schwammig verallgemeinernden Analyseversuchen gleichen sie jener neapolitanischen Tischrunde um den Protagonisten Krass, die eitel und rechthaberisch darum bemüht ist, einen Zaubertrick zu dekonstruieren, der ihnen gerade in einer Vorstellung präsentiert worden ist. Als der zur Gruppe gehörige französische Arzt die Illusion als Humbug vom Tisch wischen will, kommentiert der Erzähler süffisant: „Ein ernstes Wort. Die Konversation bekam Niveau.“ 

Dass der Inhalt des Romans nur sehr schwer wiederzugeben sei, weil er vielmehr einem komplex orchestrierten Zusammenspiel von Inhalt, Form, Motiven und „metafiktionalen Selbstkommentare[n]“ entspräche, entnimmt man etwa der Kritik von Patrick Bahners in der FAZ. Katja Weise nennt den Roman in ihrer Kritik für den NDR „etwas unübersichtlich“, während Wolfgang Schneider in seiner Kritik für den Deutschlandfunk von „einer gewissen Umständlichkeit und Schattierungskunst spricht“. Helmut Böttiger, der den Roman in seiner Kritik für Deutschlandfunk Kultur als den belächelnswerten Versuch eines mit veralteten Mitteln arbeitenden Romanciers beschreibt, auf dessen Provokationsversuche einzugehen, man sich nicht herablassen sollte, überrascht mit der keineswegs als Kompliment gemeinten Behauptung, es ginge in Krass „um nichts Geringeres als das Wesen der Existenz“. 

Auch wenn einige der genannten Kritiken bei ihren Deutungsversuchen zu durchaus spannenden Resultaten kommen, übersehen sie bei der Betrachtung des Komplexen das Einfache: Vor allem anderen ist Krass ein großer Roman über die Liebe. In seinem Mittelpunkt stehen die amourösen Sehnsüchte der drei Haupthelden (Geschäftsmann Ralph Krass, seine kurzzeitige Begleiterin und spätere Kunstvermittlerin Lidewine Schoonemaker sowie Krass’ Sekretär Matthias Jüngel, der im Verlauf der Romanhandlung Professor für Urbanistik an der Universität Wuppertal werden wird) und ihr klägliches Versagen bei dem Versuch, sie zu erfüllen. Alle drei gehen mit dem Bewusstsein durch die Welt, auf besondere Weise unabhängig zu sein. Und alle drei werden von der Illusion, die diese Weltanschauung bedeutet, eingeholt. 

Helmut Böttiger hat sicher recht, wenn er Provokationen im Roman erkennt. Schon der Vorname des Haupthelden ist eine solche Provokation: Ralph mit p-h, um die in der neuen Rechtschreibung durchgängig mit f ersetzte Konsonantenfolge so oft wie möglich im Roman auftauchen zu lassen. Indem er solche Atavismen spielerisch einsetzt, kokettiert Mosebach mit der Rolle des Kritikers der Gegenwart vom konservativen Standpunkt, auf den ihn die Öffentlichkeit in aller Regel festzusetzen geneigt ist. 

In diesem Zusammenhang muss auch von dem demonstrativen Desinteresse an der Politik die Rede sein. Judith von Sternburg hat in der Frankfurter Rundschau als erste auf Jüngels Tagebucheintrag vom 9. November 1989 verwiesen, in dem von den politischen Ereignissen des Tages jede Spur fehlt. Genauso wenig ist 2008 von einer weltweiten Finanzkrise die Rede, obwohl Krass in diesem Jahr sein Geschäft endgültig an die Wand fährt.

Diese zur Schau gestellte Unlust an der Politik liest sich in Zeiten von hyperpolitisierten Debatten wie eine Erinnerung daran, dass es neben politischen Realitäten noch anderes gibt, was sich wesentlich auf den Menschen auswirkt. Sie passt zudem hervorragend zu den obsessiven Charakteren des Romanpersonals. 

Ralph Krass ist schon deshalb wenig an seiner Umwelt interessiert, weil er sich selbst als Zentrum des Geschehens ansieht, nach dem sich der Rest auszurichten hat. In seiner Selbstbezogenheit lässt sich eine Karikatur des trotz seiner Halbbildung von Überzeugungen strotzenden modernen Diskursteilnehmers erkennen: „[A]lles, von dem er zuvor nie gehört hatte, schien ihm auf unbestimmte Weise dennoch bereits bekannt, was jedenfalls von der Art, daß er selbst darauf hätte kommen können.“ Wen wundert da noch seine Erkenntnis, „er war doch sein bester Gesprächspartner“?

Dennoch sehnt sich Krass nach Begleitung und so gibt er seinem Assistenten Jüngel den Auftrag, die Frau vom Nebentisch im neapolitanischen Restaurant als seine Begleiterin zu akquirieren. Lidewine Schoonemaker zeigt sich offen für die Avancen. Sie lässt sich ohnehin durchs Leben treiben und folgt ihrer eigenartigen Maxime: „Gerade, was den Instinkt anging, hatte sie eine eigene Theorie: Eine Frau müsse ihm stets folgen, dies sei der einzige Ratgeber, der zähle. Ja, es komme zwar vor, daß dieser Weg ins Unglück führe, oft sogar, was aber überhaupt kein Argument dagegen sei. Bringe man seine innere Stimme zum Schweigen, indem man fremdem Rat folge, und lande daraufhin im Desaster, so werde man sich das niemals verzeihen“. Und so tänzelt sie solange durch das Leben, bis es ernst wird. 

Jüngel schließlich, dessen Funktion im Roman damit angegeben wird, „Bewegungen auszulösen, ohne selbst jemals eine Hauptrolle zu übernehmen“, lässt sich von der Selbstbestimmtheit der beiden anderen derart faszinieren, dass er ihnen bald nacheifern wird. Seine Trennung von Krass, der zuvor sein Verhältnis zu Lidewine aufgelöst hat, geht mit der Trennung von seiner Frau einher. In eine tiefe Krise gestürzt, zieht er sich ins französische Niemandsland zurück, wo ihm durch unerhörte Zufälle eine Einsicht zuteilwird, die sein restliches Leben prägen wird. Es ist der Weg des Erfolgs, der gleichzeitig der Weg der emotionalen Armut ist.  

Die Unwahrscheinlichkeit des Findens der Liebe wird im dritten und letzten Teil des Buches durch eine weitere, geradezu wunderbare Zusammenführung aller drei Hauptfiguren in Szene gesetzt. In Kairo treffen sie abermals aufeinander und können sich doch wieder nicht finden. In der allerletzten Episode des Romans scheitern Jüngel und Schoonemaker bei der Suche des Grabs des gerade eben verstorbenen Krass. Lidewine lässt den fremd gewordenen Jüngel schließlich im Gräberfeld stehen.  

Mosebach schöpft so tief aus dem Reservoir des Weltwissens, bedient sich aus dem reichen Fundus von Menschheitsmythen und Weltgeschichte, dass es ihm gelingt, phantastisch funkelnde Bilder zu erschaffen. Als Antworten auf ewige Fragen taugen sie zu modernen Mythen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Ralph Krass ein Buch liest, dann reist er die bereits gelesenen Seiten samt Buchdeckel heraus und wirft sie weg. Eine Kraftmeiergeste von verzweifelter Schönheit. Wie soll man sie deuten?

Was Mosebach in seinem die alte Welt umspannenden Roman inszeniert, ist ein Wettbewerb von Lebensentwürfen dreier außergewöhnlicher Charaktere, die alle auf ihre Weise durchzukommen versuchen. Der Machtmensch, die Spielerin, der Intellektuelle – bei allen bleibt etwas auf der Strecke, keinem von ihnen gelingt es, eine Liebesbeziehung zu führen, die den Namen verdient hätte. In seinem Anspruch, die ganze Welt in einem Roman unterzubringen, hat Martin Mosebachs Krass in der Tat etwas Antiquiertes. Denn wem gelingt es heute noch, seine Figuren in so vielgestaltigen Beziehungen und Abhängigkeiten zu zeigen? Krass ist ein ganz großer Roman. 

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Martin Mosebach: Krass
Rowohlt 2021
528 Seiten / 25 Euro

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Foto: UniBay / pixabay.com

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