„‚Wir sind vieles‘, erwiderte sie. ‚Aber niemals zahnlos.‘“ – Sharon Dodua Otoo: Adas Raum

Von Stefanie Schien

Eine junge Frau in einem Dorf an der Küste Ghanas zur Zeit der einsetzenden Kolonialisierung, eine Adelige mit mathematischem Genie im Zeitalter der britischen Industrialisierung, eine Zwangsprostituierte in einem Thüringer KZ während des Zweiten Weltkriegs und eine schwangere Studierende in Berlin kurz vor dem Brexit-Votum. Zwei Schwarze und zwei ‚weiße‘ Frauen. Sie alle sind Ada. In einer vierdimensionalen Collage entwirft Sharon Dodua Otoo in ihrem Debütroman ‚Adas Raum‘ einen weiblichen Blick auf die Welt, die gezeichnet ist von Trauma, Rassismus und einem Funken Hoffnung.

In den vier Etappen durch die Weltgeschichte erspart Otoo ihren Adas nichts. Das Leben jeder Ada ist durch Überlebenskämpfe, Traumata und Widrigkeiten geprägt: Ada in Ghana wächst während des frühen kolonialen Sklavenhandels an der Goldküste auf und wird verschleppt, nachdem sie ein Massaker in ihrem Dorf miterleben musste. Ada in Großbritannien – die kreative Ergänzung der Biographie der historische Person Ada Lovelace – ist Computerpionierin, doch für ihre Brillanz ist kein Platz neben den Egos der Männer in ihrem Leben. Ada im KZ Mittelbau-Dora erleidet unvorstellbare Pein im bürokratisch durchorganisierten Lagerbordell und kann dem Ganzen nur durch temporäre Dissoziation entfliehen. Ada in Berlin ist Hoffnungsträgerin des ganzen Dorfes in Ghana und gerade zum Informatikstudium in Deutschland eingetroffen als sie durch nicht-einvernehmlichem Sex schwanger wird. 

Mehr als den Namen teilen die Adas, insofern sie ihr Leben nur eingeschränkt oder gar nicht frei gestalten können aufgrund der historischen Umstände oder Gesellschaften, in denen sie leben. Am Ende jedoch, so viel kann mensch vorwegnehmen, eint die vier Adas zwischen Raum und Zeit mehr als ihr Name und ihre Traumata. Zunehmen werden ihre Geschichten durch das Erscheinen und Verschwinden eines Armbandes aus 33 goldenen Perlen miteinander verknüpft und es wird klar, die vier Adas verbindet ein Schicksal; sie sind eine Ada. 

Die Geschichten jeder einzelnen Ada sind dabei zergliedert in zahlreiche Segmente, die ohne Rücksicht auf die Chronologie der Ereignisse in den Text eingewoben werden. Die Autorin mutet den Lesenden zudem durch zahlreiche Perspektivenwechsel innerhalb der Erzählstränge Vieles zu: Mal ist jeweilige Ada die Ich-Erzählerin, mal erfahren wir das Geschehen aus einer allwissenden Erzählperspektive und mal aus der Perspektive eines helfenden nicht-menschlichen Wesens, das mal aus dem Blickwinkel eines Reisigbesens und mal aus Sicht eines Reisepasses spricht. So haben die Lesenden im Laufe des Buches an der gleichen Situation aus mehreren Blickwinkeln teil, wodurch sich sukzessive immer mehr Details und Anschlusspunkte entfalten. 

Otoo schafft mittels dieser Wechsel zwischen Zeit, Raum und durch das Verweben der Perspektiven eine vierdimensionale Erzähl-Collage, die nicht nur die Leben der Ada, sondern auch ihrer Umfelder nachzeichnet. Damit mensch bei dieser Dichte nicht den sprichwörtlichen Faden verliert, schlägt das nicht-menschliche Wesenden Bögen zur Gesamterzählung, indem es die Leser*innenschaft direkt anspricht und sie in den Plan für Ada einweiht. Mit den Einwürfen des Wesens schafft die Autorin zudem immer wieder Pausen in dem Leid, das Ada widerfährt – emotionale Verschnaufpausen. Mit den Auftritten der Gegenstände, in denen das nicht-menschliche Wesen erscheint, räumt Otoo einer ungewöhnlichen Erzählerperspektive viel Raum ein und knüpft formell an den Text Herr Gröttrup setzt sich hin an, für den sie 2016 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.

Mittels Sprache stellt Otoo subtil ein patriarchales Weltbild in Frage. So verwendet sie bei Beschreibungen „mensch“ statt „man“, Gott ist mal weiblich und mal männlich und Männlichkeit ist keine biologische Kategorie, sondern eine soziale, denn es gibt sowohl Männer mit Penis als auch Männer mit Vagina. Durch diesen Gebrauch von feministischer Sprache, reklamiert Otoo deren Platz im literarischen Kanon. Sie kreiert selbstbewusst einen willkommenheißenden, offenen Raum in der Sprache. Dieser Versuch ist auch deshalb gelungen, weil sie ihn selbstverständlich postuliert und nicht erstreitet. Man könnte also durchaus zurecht von einem feministischen Roman sprechen, dazu trägt zweifelsohne auch die Einreihung des Romans in die Betrachtung von historischen Ereignissen aus dezidiert weiblicher Perspektive bei.

Der Roman leistet dies zweifelsohne. Mindestens genauso bedeutsam wie die geteilte weibliche sind allerdings gemeinsame Schwarze Erfahrung, die bis in die Gegenwart gezeichnet sind von anhaltender Gewalt, Rassismus, Diskriminierung und struktureller Ungleichheit. Sowohl durch Adas Schicksal und der Menschen, die sie umgeben in Ghana, wie auch durch das Bild, das sie von unterschiedlichen Schwarzen Personen in Berlin entwirft, deren Leben trotz vieler Unterschiede durch Diskriminierung „gemeinsam“ wird. Stellvertretend dafür steht ebenfalls das Fruchtbarkeits-Perlenarmband, das in Ghana skrupellos von portugiesischen Matrosen geklaut wurde und das Ada in Berlin nur in einer Ausstellung betrachten kann. Darüber entrüsten sich dann auch zwei nigerianische Frauen, durch die Otoo nebenbei noch auf Rückgabeforderung von Museumsobjekten aus kolonialen Kontexten referiert: „‚Ich zahle doch nicht, um mein eignes Eigentum anzuschauen.‘ ‚Das Armband gehört Ihnen?‘ ‚Nicht mir, uns. Dir und mir. Und meinen Schwestern. Und Müttern. Und Vormüttern.‘“

Denn eigentlich sind Ghana und Berlin keine zwei getrennten Geschichten, sondern eine über Generationen miteinander verknüpfte. Dies symbolisiert auch der volle Name Adas in Berlin, Adanne, was „die Tochter der Mutter“ bedeutet. Auch dies ist eine Botschaft Otoos: Die Traumata der Kolonialzeit verbinden die Gegenwart mit der Vergangenheit und auch mit der Zukunft. Dass sich koloniale Ungleichheit in modifizierter Weise fortschreibt, lässt sich wieder am Armband erfassen: Denn selbst wenn die Menschen aus Nigeria oder Ghana es im Museum besichtigen wollten, sie würden schlicht keine Einreiseerlaubnis erhalten. 

Auch Rassismus ist nicht verschwunden. Er äußert sich vielleicht nicht ausschließlich in physischer Gewalt, sondern in Blicken und durch verschlossene Türen. Dass sich als „anders“ zu erfahren und Unterschiede zwischen „wir“ und „ihr“ kein natürlicher Fakt, sondern Ergebnis von hegemonialer Konstruktion und Unterwerfung sind, macht die Autorin ebenfalls mit den Worten Adas deutlich: „Aber den Hang, Sachen durchzuschneiden und voneinander abzuspalten haben erst Die-Mit-den-Großen-Schiffen mitgebracht. Rasend entwickelten sich die Umstände so, dass das ‚hier‘ nicht nur vom Standort ‚dort‘ räumlich getrennt wurde, sondern dass das ‚hier‘ über das ‚dort‘ platziert wurde.“

Sich dieser Vergangenheit und des eigenen Schicksals zu bemächtigen, das ist auch die Geschichte Adas. „Weißt Du, was Du bist?“ – Sobald Ada diese Frage beantworten kann, trägt sie Hoffnung und Zukunft in sich. Otoo lässt die Lesenden daran teilhaben, an allen Epochen, Verflechtungen, Widersprüchen, Innensichten und Ambitionen.

Trotz der teils fordernden Erzählstruktur und auch mancher Längen, für mich als weiße Frau aus Deutschland, ist Adas Raum ein bewegendes Zeugnis weiblichen und Schwarzen Lebens und ein eleganter Roman, in dem die komplexe Verknüpfung von Zeit, Raum und Perspektiven am Ende ein notwendigerweise vielschichtiges, aber unbedingt kraftvolles Ganzes bildet. Hiermit verleiht Sharon Dodua Otoo in literarischer Form dem Ausdruck, was sie darüber hinaus als Aktivistin, unter anderem als ehemalige Vorsitzende der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V., und als Herausgeberin der Buchreihe Witnessed tut: Zeugnis ablegen und den Blick darauf richten, wo es wehtut.

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Sharon Dodua Otoo: Adas Raum
S. Fischer 2021
320 Seiten / 22 Euro

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Foto: unsplash.com / Annie Sprat

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