Großmutters Landschaft, eine zerfallende Familie – Christoph Geiser: Grünsee

Von Jascha Feldhaus 

Christoph Geisers Roman Grünsee ist der erste Band der Werkausgabe, aber nicht der erste Roman des Autors. Dennoch scheint die Wahl ein kluger Zug zu sein, denn dieser Roman bietet einen wunderbaren Einstieg in die literarische Welt Geisers und damit auch in die zweibändige Familienerzählung. Der Leser folgt hier einem personellen Ich-Erzähler, der durchaus als ein Alter Ego des Autors erscheint und aus dessen Sicht die doppelsträngige Erzählung präsentiert wird. Aber – und das ist große Kunst – der Erzähler drängt sich nicht zwangsläufig als Hauptfigur auf, vielmehr begleitet man ihn durch Vergangenheit und Gegenwart, in denen er jeweils seinen eigenen Platz hat. Wobei das Vergangene eine Familiengeschichte zeigt, die sich vor allem in und um das Feriendomizil seiner Großmutter in Zermatt dreht, während das Jetzt bedeutsam das Resultat aufzeigt.

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Widerwillig folgt der Erzähler der Einladung seines Bruders in den Skiurlaub nach Zermatt; gerade auch deshalb widerwillig, weil er selbst gar nicht mehr Ski fährt. Dennoch fährt er hin, denn er sieht darin vor allem die Möglichkeit, sein momentanes journalistisches Projekt voranzutreiben: die Untersuchung und Aufarbeitung der frühen Typhus-Epidemie als seine Großmutter noch jung war. Das Findelwald, „ein altes Chalet aus schwarzen Balken mit einem weißverputzten Fundament“, ist die Urlaubsresidenz, in der bereits der Bruder mit drei Freunden – Lorenzo, Mauri und Danielle – angekommen ist. Dieses Chalet war früher der Ort der Familie, in der sie ihre Urlaube verbracht haben. Die Großmutter logierte hier auch während der Typhus-Epidemie. Der Ort bietet also auch viel Platz für eine Geschichte, der aus der Gegenwart nachgegangen wird.

Mithilfe dieser Konstellationen werden die unterschiedlichen Räume markiert, durch die sich der Roman bewegt. Der gegenwärtige Bezug stellt den Ich-Erzähler als Außenseiter heraus, er fühlt sich nicht verbunden mit den anderen vier Urlaubern. Sein Bruder verhält sich dazu übergriffig und wird oft als selbstbezogener Mensch präsentiert. Dabei darf aber von außen nicht zu schnell geurteilt werden, denn durchaus ist dem Bruder seine soziale Art anzurechnen, die immerhin die Gruppe für den Urlaub zusammenbringt, wenn auch sein freigeistiges Wesen diesen Eindruck häufig durchbricht, weil ruckartig immer wieder alles nach seinem Gutdünken gehen muss. Den anderen gegenüber ist der Erzähler eher milde, er respektiert ihre Eigenheiten, schätzt sogar weniges an ihnen, bleibt aber auf Distanz.

Dieser Abstand führt eben auch dazu, dass er sich alleine durch die verschneite Landschaft rund um das Matterhorn bewegt. Für die Schilderung der Ausflüge werden lebhafte Szenerien entworfen, die dem Roman etwas wundervoll bildhaftes verleihen. „Eine leere weiße Landschaft, durch die eine rote Eisenbahn fährt, einen weißen Hügel ohne Bäume und Häuser hinauf – so stellte ich mir die Höhe vor: Berge, den Berg, gab es in meiner Phantasie nicht“ – ebenso erreichen die Bilder auch die Phantasie des Lesers, das innere Auge kann durch die Gegend schweifen. Und dank teilweiser geographischer Höhenangaben werden einem immer wieder zusätzlich sinnenhafte Ausblick ermöglicht. Fernerhin wird dort in den einzelnen Bereichen auch die Außenseiterrolle des Protagonisten verdeutlicht, der sich in der Naturlandschaft wohler fühlt als im sich anbahnenden Kontakt zu den Touristen, der häufig auch von Misstrauen und Unverständnis geprägt ist.

Ausgehend von der Typhus-Epidemie, welche die Großmutter damals ungläubig gemeinsam mit ihren zwei Dienstmädchen miterlebt hat, schweift der Blick immer wieder vorwärts in der Vergangenheit und zeichnet so die Familienzusammenhänge nach. Dabei wird besonders deutlich, dass die Familiengeschichte von Vorurteilen und Missverständnissen geprägt war und bis heute ist. Die Fassade der anfänglich heiteren Familienurlaube bröckelt. So, dass beispielsweise der Vater immer seltener mitkommt, bis er diese Urlaubszeiten für sich alleine und das Golfspielen nutzt, anstatt mit der Familie in den Bergen Ski zu fahren. Oder dass die Mutter mit zunehmender Unsicherheit sich vom Skifahren entfernt und damit auch aus Zermatt. Zwei andere Figuren, die innerhalb der Familie Sonderlingsstellungen einnehmen, bleiben ebenfalls auf der Strecke. Da ist einmal Walter, der als Skilehrer die prägende Gestalt des Wintersports ist; doch verliert er mit wachsender Souveränität der anderen (vor allem der Brüder) seine Rolle und verschwindet dadurch aus dem Familiengeflecht. Dann ist da noch Pigger, der Cousin des Erzählers, der sich als tragische Außenseiterfigur, missverstanden und ungeliebt, das Leben nimmt – und einen tiefschwarzer Fleck in der Familiengeschichte hinterlässt.

Die wesentliche Konstante, die Großmutter, erscheint ebenso zunehmend als Schatten. Sie wird älter und gebrechlicher, was mit steigender Erschöpfung und Orientierungslosigkeit einhergeht. Ihre Wanderungen werden kürzer, die Zeit im Haus nimmt zu, genauso wie ihre Vergesslichkeit. Schließlich bleibt auch sie unten, wie es heißt, in der Stadt. Sie lebt noch, der Ich-Erzähler besucht sie auch häufig, fühlt sich ihr verbunden und kann sich zudem auch ihrer Herzlichkeit sicher sein; gleichzeitig erhofft er sich noch neue Informationen für seine Typhusgeschichte von ihr, wenn auch eher vergeblich.

Christoph Geiser arrangiert in Grünsee eine Familiengeschichte, die sich in die winterliche Landschaft um das Matterhorn einschreibt. Die Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart ist im Text spielerisch und dabei spielend leicht angelegt, sodass die etwaigen Sprünge zwischen den jeweiligen Textabschnitten nicht abrupt erfolgen, sondern einer Serpentinenabfahrt gleichen, die mal weitere, mal engere Kurven zieht, womit der Text den Leser oft ganz unbemerkt vom Hier ins Dort führt. Sprachlich kommt der Roman dabei unaufgeregt daher. Der gedankliche und sprachliche Kosmos machen den Protagonisten nahbar, dabei zwingt er sich aber nicht auf, vielmehr wird dem Leser Lust an der Erzählung und dem damit verbundenen Zerfall des Familienverbunds gemacht. Ein gelungener Einstieg in das Werk eines wunderbaren Schweizer Erzählers.

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Christoph Geiser: Grünsee
Secession 2022
301 Seiten / 26 Euro

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Foto: pasja1000 / pixabay

2 Kommentare zu „Großmutters Landschaft, eine zerfallende Familie – Christoph Geiser: Grünsee

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