Zerrüttende Verhältnisse – Christoph Geiser: Brachland

Von Jascha Feldhaus 

Mit Brachland liefert Christoph Geiser die Fortsetzung seines Familienromans Grünsee und den zweiten Band seiner Werkausgabe. Im Mittelpunkt des Romans steht der Vater. Ein gesellschaftlich angesehener Kinderarzt, der auch gerne im Mittelpunkt der Familie stehen würde, dort aber aufgrund seiner patriarchalen Ansprüche untergeht und schließlich als selbstgewählter Außenseiter im Elsass landet. 

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Wie zu vor in Grünsee haben wir es hier mit einem Ich-Erzähler zu tun, dessen Sicht die bestimmende Perspektive bildet, sich damit aber dennoch nicht aufzwingt. Fast schon sachlich erzählend kommen die Eindrücke daher, sodass die Darstellungen der weiteren Figuren eher wie Selbstbezeugungen derselben anmuten. Das ist geschickt arrangiert, weil der Erzähler sich so dem Leser entzieht – auch wenn es alles seine Beschreibungen und Nacherzählungen sind – und sich selbst nicht verdächtig macht. In gewisser Weise gibt er das auch bereits gleich am Anfang zu: „Ich setze mich nie zu ihnen, ich kleide mich bloß an der Grenze ihres Reiches aus. Ich werfe die ‚Merkur‘-Tüte ins Gras und lege mich rasch auf das ausgebreitete Badetuch, auf meinem Stammplatz am Rande der Wiese.“ – eine Selbstinszenierung als außenstehender Beobachter im inneren Kreis des „Männerabteils“ im Berner Aare-Freibad.

Während der Protagonist sich im Plot noch in der Gegenwart befindet, versteht es Geiser wieder, den Rest des Romans klug in die ältere wie jüngere Familienvergangenheit zu verlegen. Diese dem Vorgängerwerk ähnelnde Struktur ermöglicht es, das weitreichende familiäre Geflecht darzustellen, was unbedingt notwendig ist, um der Passivität des Erzählers näher zu kommen. Dabei erfahren wir unterschiedliche Zusammenhänge, welche die Entwicklung des Protagonisten, aber auch der Familie an sich nachzeichnen. Anachronistische Familienbilder haben sich tief in die familiäre Struktur eingeschrieben, wobei sich auch Regungen der Ablösung zeigen; dennoch sind Formen von Gewalt immer präsent: „Der Jähzorn lag in der Familie“. Der Vater wird hier zur patriarchalen Figur, die einen erschütternden Schatten auf die Familie wirft. Die Mutter, besonders aber das Kindermädchen Esther markieren darin eine liebevollere Lücke, die den Raum nach und nach erhellt.

Festgemacht wird der Roman an der Figur des Vaters. Längst schon haben die zwei Söhne das Zuhause verlassen und damit ihre Freiheit gewonnen, da verlässt der Vater für seine Rente die Heimatstadt Basel für ein ländliches Refugium im Elsass – es war sowieso schon überfällig, wurde ihm doch zunehmend seine Wichtigkeit von einer jüngeren Kollegin in der eigenen Praxis abgelaufen. Die Mutter aber bleibt dem elsässischen Refugium mehr und mehr fern, sie verabschiedet sich vom Vater, indem sie ihn mit seinen kindischen Ängsten und seiner zunehmenden Gebrechlichkeit dort alleine lässt. Sie bleibt in Basel. Der Vater selbst kommt nur noch selten nach Hause, kündigt sich häufig auch nicht mehr an – Rücksicht würde wahrscheinlich auch dann nicht mehr auf ihn genommen. Sein herrisch-patriarchales Verhalten wird dadurch entlarvt. Er wirkt klein in seinem provisorischen Landhäuschen. Anstatt aber seine Situation einmal neu einzuschätzen, Gewesenes einmal zu überdenken, verhält er sich altbekannt – und deckt dabei seine eigene Machtlosigkeit, die Ausdruck seiner Einsamkeit ist, auf: Die Mutter „habe ihm bei ihrem letzten Besuch vorausgesagt, was ihn erwarte; dann müssen wir doch etwas dagegen tun, habe er hilflos geantwortet.“

Auf den Protagonisten muss diese hilflose Einsamkeit befreiend wirken, eine Ablösung vom Vater, der als anachronistisches Selbstbild alleine zurückbleibt. Dennoch ist es immer noch sein Vater, dem er dann auch in einer längeren Passage des Romans im Elsass begegnet. Die Widrigkeiten der Vergangenheit begleiten den Besuch. Aber als erwachsener Mann weiß der Ich-Erzähler sich davon abzugrenzen. Annäherungen begrenzen sich auf die Momente, in denen der Vater alleine machtlos ist, hier lässt der Vater es zu. Ansonsten verbleibt der Erzähler in beobachtender Position, immer mit ein wenig Distanz.

Der Roman Brachland gewährt einen weiteren Blick in die Familiengeschichte. Trotz der vergleichbaren Thematik und der ähnlichen Mittel wie in Grünsee, derer sich Christoph Geiser hier bedient, schafft es der Autor, mit diesem Text ein ganz anderes, eigentlich wenig vergleichbares Buch zu entwickeln. Brachland ist insgesamt ruhiger, der Blick richtet sich mehr auf die Genealogie der Eltern, auf das Elternhaus und schafft daran den Sprung ins eigene Erwachsensein, was besonders an der Sprache deutlich wird. Diese ist hier beobachtend, sie bleibt distanziert und wirkt dadurch breiter. Zusammengenommen sind beide Romane eine gemeinsame Entwicklung, ein Großwerden, das den Protagonisten durch beide Werke hindurch begleitet.


Christoph Geiser: Brachland
Secession 2022
371 Seiten / 26 Euro

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Foto: Simon Morgenthaler / privat

Ein Kommentar zu „Zerrüttende Verhältnisse – Christoph Geiser: Brachland

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