Kopflos ins Abenteuer – Jan Koneffke: Die Tsantsa-Memoiren

Von Stefanie Schien

„Unsere Köpfe würden eine schöne Trophäe abgeben, wenn nicht sogar eine begehrte“, schrieb der U.S. Amerikaner Fritz Up de Graff über sein Zusammentreffen mit Jívaro-Kriegern im Jahr 1894 in Ecuador. Spätestens seit seinem Reisebericht, in dem sich Fiktion und stereotype Zuschreibung mit tatsächlich Erlebtem vermischen, geistern Schrumpfköpfe durch die Literatur. Jan Koneffke macht sie nicht nur zum Gegenstand der Erzählung, sondern zum Erzähler selbst: In ‚Die Tsantsa-Memoiren‘ berichtet der Schrumpfkopf Tato in vier Teilen von seinem langen „Leben“.

Über vier Jahrhunderte und über zwei Kontinente hinweg begleiten die Leser*innen ihn dabei: Von Tatos frühster Erinnerung im Dschungel, wie er von einem sprechenden Blauara zu reden lernt, bis hin zu seiner Freundschaft mit einem britischen Kaufmann in Rom, von seinem Beitrag zu den Geschehnissen in der Paulskirche 1848, von Erfahrungen als Jahrmarktsattraktion oder Sammlungs- und Forschungsobjekt in Cambridge und Wien, den Erinnerungen an die Weltkriege, über seine Erfolge an der Frankfurter Börse und bis hin zum Gegenstand postkolonialer Debatten. Er wechselt mehr als zehnmal den/die Besitzer*in und kreuzt die Wege unzähliger Figuren, die stellvertretend für die jeweilige Epoche und diverse soziale Milieus innerhalb dieser stehen. Dabei verschafft Tato durch seine besonderen Fähigkeiten – er kann etwa Gerüche sehen und besser als Computer rechnen – seinen Eigentümer*innen unschlagbare Vorteile und wird dadurch zur heimlichen Triebfeder des Geschehens. Gleichzeitig ist er als leibloser Kopf den Menschen (und Tieren), die ihm begegnen hilflos ausgesetzt.

Wie sich durch die Vielzahl von Epochen, Besitzer*innen und begleitenden Figuren schon abzeichnet: Der Roman lädt nicht zum Verweilen oder Ankommen in einer Zeit oder Szenerie ein. Dieser Tour-de-force-Charakter schlägt sich auch auf die Erzählweise nieder: Es wird den Leser*innen schlicht keine Zeit gelassen, die Figuren über ihre Sprache oder Taten kennenzulernen. Koneffke zeigt nicht, er erklärt, wer und wie jemand ist. Dies gilt insbesondere für die Charaktere, die nur kurzweilig eine Rolle für die Weiterentwicklung der Handlung spielen. Ein unschönes Äußeres ist dabei oft das Gleichnis für ein hässliches Inneres. Das bereitet auf Dauer durch die schiere Fülle der Wechsel bei gleichzeitiger Wiederholung des Motivs kein besonderes Lesevergnügen. Dass es dem Autor nicht an Sprachvermögen fehlt, wird hingegen bei den Landschaftsbeschreibungen deutlich. Die lyrisch anmutenden, bildmalerischen Eindrücke, die er zum Beispiel vom Winter in und um Bamberg zeichnet, machen durchaus Lust auf mehr.

Neben den Epochen-Miniaturen mit ihren jeweiligen Charakteren und sozio-historischen Entwicklungen ziehen sich zwei Themen durch den Roman: die Menschwerdung Tatos und eine postkoloniale Kritik. Erstere vollzieht sich in Form von krisenhaften Erfahrungssprüngen. Sie beginnt in einem undifferenzierten Bewusstseinszustand in einer Höhle im Regenwald und akkumuliert sich gewissermaßen im Laufe der Zeit. In Caracas ist es beispielsweise die Abscheu vor der sadistischen Ermordung des Sklaven Anibal, die Tato nach dem Sehen und Hören, schließlich Emotionen erfahren lässt. Es folgen Sehnsüchte wie der Wunsch nach Gesellschaft und Anerkennung, ein so unstillbarer wie unerfüllbarer Appetit und sexuelles Begehren. Letzteres führt den Schrumpfkopf auf die Couch eines frühen Seelenarztes im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts. In dieser Analyse stößt er schließlich auf sein altes Ich, einem Landknecht aus Augsburg, der als guter Christ und als noch besserer Konquistador das Amazonasbecken auf der Suche nach Reichtürmern durchquerte. Die Emanzipation von diesem skrupellosen Vor-Ich kostet Tato viel Kraft, vollendet aber die Menschwerdung aus eigenem Antrieb, auch wenn er den fehlenden Leib nie überwinden kann. Sie endet damit aber gewissermaßen mitten in der Erzählung, ohne so recht aufgelöst zu werden. Auch über die konkreten Ereignisse, die aus dem Deutschen einen Schrumpfkopf machten, erfahren die Leser*innen nichts.

Ein weiteres Thema, dass sich durch die gut 550 Seiten zieht, ist der Schrumpfkopf als Sinnbild für den Exotismus, den die westliche Welt mit dem tsantsa betreibt: groteskes Accessoire, Versuchsobjekt empathieloser Mediziner, Trophäe sammelwütiger Anthropologen, Prachtstück eines Nazi-Offiziers, bis er zuletzt zum Reißer eines Auktionshauses wird, das sich am Verkauf menschlicher Überreste bereichert. In all diesen Momenten klingt eine Kritik an asymmetrischen Machtverhältnissen sowie an kolonialen und rassistischen Ideologien und deren Verfechter*innen an, die über Schrumpfköpfe oder andere menschliche Überreste der vermeintlich primitiven Anderen verfügen und sich darin selbst in ihrer Unmenschlichkeit enttarnen.

In Anspielung auf ein Gerichtsverfahren 2015 in München thematisiert Koneffke durch den Charakter des Journalisten Christopher Prinz, der eine Auktion Tatos anfechtet und sich im Rahmen eines Prozesses um die Anerkennung des lebendigen Schrumpfkopfs als Person bemüht, zwar explizit Debatten um koloniales Raubgut und Museen, die sich kolonialer Strukturen und Ungerechtigkeiten bedienten, um ihre Sammlungen an Spezimen zu erweitern. Damit erweist der Autor der Thematik allerdings keinen Gefallen, nicht nur, weil er sie wie beinahe alles, nur im Schweinsgalopp streifen kann. Vielmehr aber, weil es wieder ein weißer Europäer ist, der hier das Rad der Geschichte dreht. Dass jenseits der Fiktion indigene Gesellschaften schon seit Jahrzehnten um die Rückgabe der Gebeine ihrer Vorfahr*innen kämpfen, kommt dadurch nicht zur Sprache. Vielleicht muss das ein literarisches Werk nicht leisten oder wollen, aber in seiner anheimelnden postkolonialen Kritik gleichsam so eurozentristisch zu sein, wirft zumindest die Frage auf, wieso sich der Autor gerade so entschieden hat.

Nicht unerwähnt bleiben kann in diesem Kontext die Figur Tatos selbst, dessen deutsche Identität immer wieder eine Rolle spielt. Hätte ein Schrumpfkopf anderer Herkunft weniger erleben oder auslösen können? Wir erfahren es nicht. Tato soll aber nicht nur irgendein Schrumpfkopf sein, sondern ein tsantsa. Diese wurden in der Vergangenheit von den Shuar, einer der größten indigenen Gruppen des heutigen Ecuador hergestellt. Während Koneffke über den Verlauf des Bandes Inhalte und Thesen platziert, die erkennbar machen, dass der Autor zum Thema recherchiert hat, bedient er sich hier der gleichen Fiktion und Fixierung auf Weiße als begehrenswerte Trophäen wie der eingangs erwähnte Up de Graff. Denn, die Shuar nahmen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur die Köpfe anderer Jívaro-Sprecher, ehe sich die Nachfrage europäischer und nordamerikanischer Sammler*innen in der Herstellung von tsantsa für den Handel niederschlug. Dass Tato also schon im 17. Jahrhundert hergestellt worden sein soll, passt nicht so recht in die brav gemachten Hausaufgaben. Weiterhin benennt er die Shuar nicht, obwohl er sich eines Wortes ihrer Sprache für den Titel bedient. Mehr noch: Alle anderen Ethnienbezeichnungen und Sprachen scheinen frei erfunden. Durch diese Beliebigkeiten drängt sich doch der Verdacht auf, dass Koneffke am Ende dem Übel anheimfällt, das er selbst vorführen will: Die exotisierten Anderen sind kein Gegenüber oder gar die Hauptfigur. Vielmehr dienen sie wieder als Leinwand, vor der sich das Abenteuer eines Deutschen inszenieren lässt. Für den Anstrich, den sich das Buch ansonsten gibt, ist das in der Tat abenteuerlich. Und ins Schwitzen kommt man daher nicht vor Spannung, sondern vor Anspannung.

* * *


Jan Koneffke: Die Tsantsa-Memoiren
Galiani 2020
560 Seiten / 24 Euro

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#supportyourlocalbookstore

Foto: zhangliams / pixabay.com

3 Kommentare zu „Kopflos ins Abenteuer – Jan Koneffke: Die Tsantsa-Memoiren

  1. Interessante Beobachtung zur Wiederholung der kritisierten Exotisierung. mE kann man dem Roman das auch formal vorwerfen, es ist eines dieser Beispiele, das versucht literarische Meriten durch Chaos zu simulieren, weil „Magischer Realismus!“

    https://soerenheim.wordpress.com/2020/09/11/mal-wieder-der-versuch-magischen-realismus-durch-desorganisation-zu-simulieren-die-tsantsa-memoiren/

    Nebenbei: es erschreckt mich gerade, dass ich erst vor einem halben Jahr über dieses Buch geschrieben haben soll… kommt mir vor, wie Jahre her.

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    1. Auch eine spannende Beobachtung! Die plakative Zuordnung hat mich ebenfalls gestört, Setting und Idee reichen keinesfalls aus, um unter Magischem Realismus subsumiert zu werden. Zumal mein Eindruck war, dass, neben einem Prinzip des Schreibens, Koneffke Welten, in denen solche magischen Räume existieren zu fremd sind, um sie für andere sprachlich herstellen zu können.

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      1. Da ist er allerdings nicht der einzige… man denke nur an Grassens Butt. Das scheint mir ein verbreitetes Phänomen, wie fast alle große Literatur schreckliche Manierismen hervorbringt. vom Magischen Realismus bleibt, dass man sich um die Komposition keine Gedanken machen muss, wenn man ein paar Zaubertricks auffährt, von Kafka bleiben schrecklich andeutungsreiche Sozialkritiken, von Joyce Gedankenströme, die leider vergessen, wie sie angefangen haben… Aber beim magischen Realismus stört es mich doppelt, weil das Label dann auch noch auf alles geklebt wird, was in Lateinamerika spielt…

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