„Fick dich einfach“– Hengameh Yaghoobifarah: Ministerium der Träume

Von Matthias Fischli

Traum, Trauma, Traumfabrik, das ist der Stoff, aus dem Hengameh Yahghoobifarahs Erstlingswerk gemacht ist. Unter der Oberfläche dieser körperlosen Begriffe geht es sehr handgreiflich zu.

Aus dem 11. Jahrhundert ist uns ein außergewöhnlicher Text überliefert, die Ecbasis captiviFlucht eines Gefangenen. Ein namentlich nicht bekannter jugendlicher Erzähler berichtet in dessen Vorwort, dass er in einem Kloster festsitze und sich dort allerlei Frivolitäten hingebe. Das lustvolle Umherschweifen fiel ihm irgendwann zur Last: „Also, ich saß eines Tages wie üblich herum und sah einer Gruppe von Männern zu, die sich um das allgemeine Wohlergehen mühten und die Weizenernte in große Scheuern einbrachten. Nach dem Abernten der Getreidefelder sahen die einen nach den geliebten Weinbergen, während andere eifrig Erntefrüchte in Wagen fortschafften, und zwar nicht nur für die Mönche, die das Gesetz des geistlichen Lebens beobachteten, sondern auch für die Pilger, Bettler und Waisenkinder. Auch alle übrigen sah ich den ihnen aufgetragenen Beschäftigungen nachgehen, während ich untätig war, eingesperrt im Kerker des Klosters.“

Dazu muss man wissen: In der hochmittelalterlichen Literatur Westeuropas war es ein gängiger Topos, seine Schreibversuche damit zu begründen, dass Schreiben besser sei als Nichtstun. Doch nie zuvor und viele Jahrhunderte danach gab es keinen Erzähler mehr, der so offen über seine Fehlbarkeit sprach. Wie sich daraus befreien? Durch Schreiben! Der rätselhafte Erzähler der Ecbasis ist überzeugt: Mit seiner Geschichte schafft er den Ausbruch aus den mentalen Schranken des klösterlichen Alltags. Ob dem Gefangenen die Flucht gelingt, erfahren wir nie, nur seine kunstvollen Hexameter überlebten ihn. Was hat diese tausend Jahre alte Story mit Hengameh Yaghoobifarahs Debüt zu tun? Hier schreibt sich ein:e Autor:in in die literarische Tradition Europas ein, indem sie das Gefühl der Gefangenschaft migrantischer Communities in einem Erziehungsroman thematisiert. Und dies mit einer entwaffnend ehrlichen Erzählerin! Die grosse Frage: Kann die Flucht vor dem mentalen Gefängnis ihrer Albträume und Traumata gelingen?

Nasrin Behzadi tauschte 1981 einen Luftschutzkeller in Teheran gegen eine enge Wohnung in Lübeck. Sie flüchtete zusammen mit ihrer kleinen Schwester Nushin und ihrer überforderten Mutter, die zu jeder Gelegenheit Maulschellen verteilt, vor dem Iran-Irak-Krieg, nur ihr geliebter Bābā blieb in Teheran zurück, wurde von einem Freund verraten und darauf hingerichtet. In rasantem Tempo wechseln Erzählungen zu Nasrins Jugendjahren mit Schilderungen zu ihrem späteren Leben als „migrantischer Lesbe“ und Türsteherin im Berlin der Gegenwart. In den 80ern und 90ern gewöhnt sie – Eigencharakterisierung: „dick, ausländisch, schwach“– sich an das enge und graue Lübeck, verliebt sich zum ersten Mal in ein Mädchen, überlebt einen Übergriff und sieht sich zusammen mit ihrer Gang mit den Ausläufern der Geschehnisse von Hoyerswerda und Mölln konfrontiert: Auf einem Volksfest wurden sie von fünf Rechtsextremen eingekesselt, der um Hilfe gerufene Polizist reagierte nicht: „Er guckte mich an, dann drehte er sich zur Seite, als wäre nichts auffällig an einer Gruppe von Ausländern, die von fünf Glatzköpfen in eine dunkle Ecke gedrängt werden.“

Gegen all dies helfen Antidepressiva, regelmässig konsumierter Cannabis – die Erzählerin berichtet mit erfrischender Ehrlichkeit davon – und die Routine als Türsteherin in einem queeren Berliner Nachtclub. Doch als Nasrins Schwester Nushin stirbt und deren pubertäre Tochter Parvin in ihr Leben tritt, gerät das alles durcheinander. Die beiden Frauen trauern jede für sich um den Tod von Nushin und geraten dabei immer wieder an die eigenen Grenzen. „‚Hey‘, brülle ich, als sie ihre Schuhe anzieht und nicht weiter auf mich eingeht. Sie weiß genau, was sie macht. Sie weiß, dass ich niemals meine Hand gegen sie erheben würde, sie niemals festhalten würde. Und dass ich zu viel Angst vor dem Jugendamt habe, um noch mal zur Polizei zu gehen, wenn sie jetzt abhaut. Mit der Hand an der Türklinke dreht sie sich zu mir. ‚Fick dich einfach‘, sagt sie und verschwindet.“ An dieser Stelle setzt der Erziehungsroman an: Aus der hemdsärmeligen, zu Ausfälligkeiten neigenden Protagonistin Nasrin, die die Dreißiger schon hinter sich gelassen hat, aber kaum auf sich aufpassen kann, wird eine sorgende Ersatzmutter, die Parvin mit viel Geduld ihre (zugegeben nicht immer sehr konformen) Werte vermittelt.

Die beiden Zeitstränge aus Vergangenheit und Gegenwart verquicken sich mit Fortlauf der Geschichte zu einem Textgeflecht, das das Gefangensein Nasrins sichtbar macht: Sie leidet an ihrer Fluchterfahrung, ihrer kalten Mutter und in nicht geringem Maße an Deutschland. Das Allein- und Eingesperrtsein mit ihren Sorgen, Ängsten, Schmerzen reflektiert die Erzählerin mit scharfer Zunge, mit treffenden Beobachtungen des Zeitgeschehens und kunstvollen Spannungsbögen, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbinden.

Am Ende eines Erziehungsromans ist gemeinhin die geistige Entwicklung der Hauptfigur erreicht und bringt das Idealbild einer Epoche zum Vorschein. Was ist das Idealbild unserer Zeit? Das Buch macht deutlich: Die neue vollkommene Bürger:in ist furchtlos. Der versöhnliche Schluss von Ministerium der Träume stimmt optimistisch: Das Gefängnis der eigenen Geschichte ist aufgebrochen. Ein befreiendes Buch.

* * *

Hinweis: Hengameh Yaghoobifarah ist ein:e nonbinäre:r Autor:in und Journalist:in. Die Schreibweise von Artikeln, Pronomina und Personenbezeichnungen folgt der Schreibweise im hier besprochenen Buch.


Hengameh Yaghoobifarah: Ministerium der Träume
Blumenbar 2021
384 Seiten / 22 Euro

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Foto: pixabay.com

6 Kommentare zu „„Fick dich einfach“– Hengameh Yaghoobifarah: Ministerium der Träume

  1. Furchtlosigkeit (Angstfreiheit) galt zu allen Zeiten und in allen Kulturen (also auch in allen Subkulturen) als Ideal. Tatsächlich IST sie das Ideal. Furcht ist die Quelle all unseren Unglücks. Nur wäre man furchtlos hienieden nicht überlebensfähig.

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    1. Sehr geehrte Frau Hartwig
      Das ist eine sehr schöne Beobachtung. Eine daran anknüpfende Frage: Stellen Sie in unsicheren Zeiten (in einer solchen sollen wir gerade leben, heisst es) eine Zunahme von Furcht- und Furchtlosigkeitsthematiken in der Literatur fest?
      Herzlich!

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      1. Ich muss vorausschicken, dass ich mich für Feststellung solcher Art nicht qualifiziert fühle. Ich habe es aufgegeben, literarisch „auf dem Laufenden“ zu sein, denn ich lese zu langsam, und es wird wahnsinnig viel veröffentlicht. Was unübersehbar ist, ist die die Zunahme an Fantasy und der Beliebtheit dieses Genres. Das hat wohl schon etwas mit Verbannung von Ängsten in eine nicht existierende Welt und gleichzeitig mit dem Wunsch nach Heldenhaftigkeit zu tun. Unsere realen Ängste mögen in der Summe zugenommen haben, weil auch unsere den Medien zu schuldende „Allwissenheit“ zugenommen hat, und die Literatur kann ja nicht anders, als das zu spiegeln. Oft scheint mir, die Menschen fühlen sich vor der Wahl zwischen (vermeintlicher oder zur Schau getragener) Furchtlosigkeit und dem Kultivieren ihrer Ängste. Der einst so verbreitete Donaldist, der optimistische Loser sozusagen) scheint die Ausnahme geworden zu sein – und das nicht erst seit Donald Trump.

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      2. Zu einer quantitativen Antwort habe auch ich bisher nicht gefunden, liebe Frau Hartwig. Mir scheint, das freudige Erstaunen, das Güntners „Power“ entgegengebracht worden ist, spricht stark für Ihre These der verschwindenden Donaldist*innen. Furchtlosigkeit und die Folgen davon sind in diesem Buch so konsequent durchleuchtet wie schon lange nicht mehr (etwas Eigenwerbung: https://aufklappen.com/2020/05/01/es-gibt-keinen-unbesiegbaren-gegner-verena-guntner-power/).
        Herzlich!

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