Von Britta Mathéus
Wenig ist so ambivalent wie die eigene Familie, die sich zugleich heimisch anfühlt und doch immer etwas Rätselhaftes behält. Die Auseinandersetzung mit ihr und die Positionierung zu ihr sind Fragen, die zeitlos sind und uns ein Leben lang begleiten. Monika Helfer nimmt uns mit auf eine Reise durch Kindheitserinnerungen und Familienlegenden. Damit erschafft sie nicht nur ein liebevoll nostalgisches Bild ihres Vaters, sondern eine sensible Beschreibung der besonderen Beziehung zwischen Kindern und Eltern.
„Er wollte so tun, als wäre er einer, der eine Bibliothek besitzt.“ Nachdem Monika Helfer in Die Bagage bereits die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits rekonstruiert hat, widmet sie sich in ihrem aktuellen Roman der vertrauten und zugleich so geheimnisvollen Persönlichkeit ihres Vaters und ihrem Verhältnis zu ihm.
Sie skizziert ein Leben, das maßgeblich geprägt ist von der tragischen Diskrepanz zwischen dem, was man ist, und dem, was man hätte sein wollen.
Als uneheliches Kind in entbehrungsreichen Verhältnissen aufgewachsen, entflieht der Junge, der später ihr Vater werden würde, seinem Schicksal mithilfe der Unterstützung von Menschen, die sein bemerkenswertes Potenzial erkennen. Ihm wird der Besuch einer weiterführenden Schule ermöglicht. Dann kommt der Krieg, er muss an die Front, statt die Matura abzulegen, kommt als versehrter junger Mann zurück, heiratet, wird Familienvater und Verwalter eines Erholungsheims für Kriegsversehrte.
Der Mann, dessen sehnlichster Wunsch es war, zu studieren und in der Stadt zu leben, der den Charakter eines Menschen danach beurteilt, wie dieser ein Buch in die Hand nimmt, findet sich in der Enge einer kognitiv wenig herausfordernden Anstellung, umringt von nichts als paradiesischer Natur, fernab aller Kultiviertheit wieder.
Helfer schwärmt von ihrer Kindheit dort oben auf der Tschengla, von der Schönheit der Natur, der Freiheit, der Vielzahl von Blumen und Gerüchen. Sie beschreibt aus Kinderaugen die Versuche ihres Vaters, sich dieses Leben zu eigen zu machen – wie er auf der Abendschule seine Matura nachholt, wie obsessiv er die Bibliothek des Heims hegt und pflegt, und wie er in seinem Schuppenlabor Chemiker spielt.
Das Buch liest sich wie ein Strom von Gedanken und Erinnerungen, manchmal gebrochen, wenn sie pausiert, um in der Gegenwart Luft zu holen, oder weitere Informationen und Meinungen einzuholen, ehe man wieder versinkt in längst vergangenen Zeiten, die heute so weit weg erscheinen. Kursierende Familiennarrative wechseln sich ab mit Gesprächsfetzen mit ihrer Schwester oder ihrer Stiefmutter.
Es gelingt der Schriftstellerin, ein harmonisches Verhältnis zwischen Kindheitserinnerungen und ihrem heutigen Wissen als Erwachsene herzustellen. Der Roman trifft damit einen Ton, der sensibel, und doch distanziert ist, zuweilen bittersüß, aber nicht verklärend. Ohne Selbstmitleid, mit der beruhigenden Gewissheit des Rückblicks schildert sie Todesfälle und Schicksalsschläge, welche die Familie im Laufe der Zeit ereilen.
Nachdenklich setzt sie sich auch mit dem eigenen Verhältnis zum Vater auseinander, das geprägt war von der geteilten Liebe zu Büchern und zur Literatur, eine Leidenschaft, in welche der Vater sie einbezog, ebenso wie in haarsträubende Bücherrettungsaktionen, wenn er wieder einmal seiner Neigung nachging, Bücher stillschweigend mitgehen zu lassen. Später dann ihr Hadern mit der Frage, wann es passiert ist, dass sie von der Tochter zur Vertrauten ihres Vaters geworden war, der er seine Lebensbeichte mitteilen wollte, und ihre Furcht davor, in diesem Zuge etwas vom Vater zu erfahren, das ihr eigenes Bild von ihm zunichte machen könnte.
Möchte man als Kind erfahren, wer die Eltern wirklich sind? Der kindliche Wunsch, sie zu idealisieren, sie lediglich in ihrer Rolle als Eltern wahrzunehmen, trifft irgendwann auf die Realität, die Einsicht, dass Eltern eine Vorgeschichte haben, eine geheime Identität, die über ihre Elternrolle hinausgeht. Es ist eine schmerzhafte und zugleich notwendige Entwicklung. Helfer gelingt eine so ehrliche Beschreibung dieser komplexen Beziehung, die einerseits getragen ist von Selbstverständlichkeit und dem Gefühl tiefer Verbundenheit, und andererseits der Ambivalenz, die sich auftut, wenn man den Eltern plötzlich als Persönlichkeiten auf Augenhöhe begegnet: „Wenn man einen Menschen ein Leben lang kennt, und erst spät erfährt, wer er im Grunde ist, dann kann man das vielleicht schwer ertragen.“
Es ist ein Erkenntnisprozess, der sich allmählich vor dem Auge des Lesers entfaltet. Die Beobachtung, wie der Vater aufblüht auf einer gemeinsamen Reise nach Berlin, wie er sich im Trubel der Großstadt und in der bunten Welt einer Schwulenbar bewegt wie ein Fisch im Wasser. Die Einsicht, dass der eigene Vater am Leben, wie er es sich gewünscht hatte, gehindert worden ist. Durch die Zeit, die Umstände, nicht zuletzt durch die eigene Existenz.
Monika Helfers Vati ist weder zielgerichteter psychologischer Analyseprozess, noch emotionale Abrechnung mit der Vergangenheit. Es ist eine sensible, und dennoch zutiefst erwachsene Erzählung, die weder Kitsch, noch übergeordnete Generalaussage benötigt, um zutiefst zu berühren.
Dieses Buch ist nicht nützlich, und erst recht nicht politisch. Genau deshalb ist es wunderschön.
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Monika Helfer: Vati
Hanser 2021
176 Seiten / 20 Euro
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Foto: Free-Photos / pixabay.com
Liebe Britta,
deine Rezension macht Lust, das Buch zu lesen. Den Band ‚Die Bagage‘ von Monika Helfer fand ich auch schon sehr gelungen. Du schreibst ausführlich, aber verrätst nicht zuviel -super.
Angela
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