Von Pascal Mathéus
Karen Köhlers erster Roman ist das umstrittenste Buch der Saison. Auf der einen Seite wird es vom Verlag als Spitzentitel des Herbstes beworben, wird Twitter überschwemmt von einer Begeisterungsflut glücklicher Leserinnen, die das feministische Buch der Stunde feiern. Auf der anderen Seite steht die Kritik von Jan Drees, der damit eine literaturkritische Generaldebatte auslöste. Drees hält ‚Miroloi‘ für einen banalen Jugendroman, der das Versagen des vor ihm niederknienden Feuilletons beweise. Beide Seiten haben unrecht.
Einen Tag nach Jan Drees’ „Klagelied für die deutsche Literatur“ platzte die Bombe: Karen Köhlers Miroloi wurde auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019 berufen. War bereits zuvor eine Welle der Kritik über den Artikel von Drees hereingebrochen, kannte die Empörung auf Twitter nun kein Halten mehr. Von den Vorurteilen der „Ü-40-Feuilletonboys“ war da zu lesen, die feministische Literatur meist überhaupt nicht und allenfalls als Bedrohung erkennen wollten. Twitter-User, die nur die Kritiken, nicht aber den Roman gelesen hatten, monierten, dass Drees bei seiner Aufzählung überschätzter mittelmäßiger Autoren drei Frauen und nur einen Mann nannte (Skandal!) und die aktuell diensthabende Chef-Feministin Margarete Stokowski fand mit Blick auf die ebenfalls äußerst negative Kritik von Jan Küveler, es gehöre „zum Lifestyle der Feuilletonboys prinzipiell neidisch auf & missgünstig gegen erfolgreiche Frauen zu sein“.
Was auffällt: Die literaturkritischen Argumente der Rezensenten ernst zu nehmen, kommt diesen Wächtern des Diskurses nicht in den Sinn. Wie sollte es auch? Dafür hätte man immerhin die Anstrengung unternehmen müssen, den Roman zu lesen. Offensichtlich geht es den lauthals um Zustimmung rufenden Twitter-Kritikern aber gar nicht um die Literatur. Sie wollen mitreden, obwohl sie nicht das Rüstzeug dazu haben. Stattdessen stellen sie die von ihnen Gerügten im Gestus der moralischen Überlegenheit an einen digitalen Pranger, der ironischerweise dem Schandpfahl auf der ‚Schönen Insel‘ in Miroloi gleicht.
Einzig die Kritik von Theresa Hein aus der Süddeutschen Zeitung kritisiert den Einwurf von Jan Drees auf Augenhöhe, weil sie seine Argumente am Text des Romans selbst prüft. Auch wenn die von ihr festgestellte „Selbstentblößung einer bestimmten Sparte der Kritik“ eine etwas scharfe Entgegnung auf Drees’ nota bene zurückhaltend als „Versuch einer Sortierung“ apostrophierten Debattenbeitrag zu sein scheint, kann man diesem Text Argument für Argument folgen – oder eben auch nicht. Hein kritisiert Drees’ in der Tat etwas seltsamen Vorwurf, Bücher wie Miroloi würden von den Verlagen nur zu Finanzierung ernsthafterer Titel vertrieben und sollten deshalb nicht von der Kritik ernst genommen werden. Ihre dann folgende Wertung des Buches fällt erstaunlicherweise ganz ähnlich aus wie die von Drees: ein schwaches Buch voller Fehlkonstruktionen, das der aktuellen feministischen Debatte nicht gerecht werde. Dies wiederum widerspreche einem offenbar ehernen Gesetz, das Theresa Hein gleich darauf aufstellt, wenn sie behauptet, „jeder Romankonflikt“ müsse „auf aktuelle Debatten anwendbar sein“. Hatte sie nicht gerade Drees vorgeworfen, er würde Miroloi aus kontingenten Gründen aus der Literatur ausschließen?
Anhänger und Gegner des Buches messen es in der Tat ausschließlich an ihrer Erwartung, wie heutzutage feministische Literatur auszusehen habe. Dabei entgehen ihnen alle Mängel und Qualitäten, die der Roman darüber hinaus noch haben könnte. Was Miroloi aber zu allererst bietet, ist eine ganz und gar faszinierende Perspektive auf eine sorgsam entworfene, in sich glaubwürdige Gesellschaft. Diese Gesellschaft ähnelt in Vielem dem, was wir über die Zustände im archaischen Griechenland wissen. Karen Köhlers Clou ist es, einer Figur Sprache zu verleihen, über die sich unsere Quellen ausschweigen.
Die Missverständnisse der Kritiker Drees oder auch Moritz Baßler in der taz, die offensichtlich nichts mit einer solchen Gesellschaft anfangen können und auch nicht mit den ästhetischen Kriterien antiker Literatur, mag man ihnen noch verzeihen. Wirklich ratlos ist man in dieser Hinsicht jedoch mit Blick auf den Latinisten Burkhard Müller, der das Buch in der Zeit als „ärgerliche[n] Roman“ verriss. Warum denkt Müller nicht an Euripides’ Ion, wenn er Miroloi liest? Wie im Roman dreht es sich auch im Drama um einen mutterlosen Tempeldiener auf der Suche nach seiner Identität. Auch das Drama „lädt den Leser […] ein, sich mit dem Kampf“ eines Unterdrückten zu „identifizieren“. Würde Müller Euripides deshalb „unfruchtbare Selbstzufriedenheit“ vorwerfen?
Natürlich lassen sich die Maßstäbe des klassischen Dramas nicht eins zu eins in die Gegenwart übersetzen. Der Versuch ist aber erlaubt. Und Köhler unternimmt ihn engagiert. Ihr gelingt dabei fast durchgehend eine Kunstsprache von hohem Wert, was ohne Frage eine literarische Leistung darstellt. Der Leser erlebt den Selbstermächtigungsprozess der Heldin. Von den ersten, dürftigen Gehversuchen eines erwachenden Geistes, über die sich einstellende Freude über die Sprache, die ihr langsam dienstbar wird, bis zur leidenschaftlichen Auflehnung im furiosen Finale des Romans.
Überdies hat Köhler, die überhaupt eine Reihe spannender Figuren geschaffen hat, ihre Charaktere mit einer Ambivalenz ausgestattet, die die angebliche Botschaft des Romans keineswegs so eindeutig erscheinen lassen, wie sich dies die Twitter-Girls wünschen würden. Der entscheidende Satz findet sich gegen Ende des Buches, wenn sich die Heldin fragt: „Ist ein Messer mehr wert als ein Buch?“ Er bleibt unbeantwortet.
Aber das Buch hat auch Schwächen. Köhler bürdet ihrer Heldin ein wenig viel auf. Sie durchlebt die gesamte geistesgeschichtliche Entwicklung des Abendlandes in ein paar Monaten und hat sich im Laufe des Buches mit beinahe jedem wichtigen philosophischen Problem der Geschichte befasst. Auch gibt es auf dem Höhepunkt der Handlung ein wenig zu viel Hollywood-Drama, wenngleich Miroloi sich deshalb auch stellenweise so packend ausnimmt wie ein guter Hollywood-Film.
Die Spannung liegt ganz klassisch in der psychologischen Entwicklung der Heldin. Dabei ist Miroloi auch ein feministischer Roman, aber das ist nicht die einzige mögliche Lesart. Die Schwierigkeiten der Heldin erschöpfen sich eben nicht im Geschlechterverhältnis. Die Selbstermächtigung einer Außenseiterin liefert uns allen reichlich Stoff für die ewige Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Auch das Erwachsenwerden überhaupt, die erste Liebe und die Rebellion gegen die Erwachsenenwelt sind Themen von Miroloi, denen Karen Köhler etliche neue Erkenntnisse abringt.
Insgesamt ist der Roman wohl ein gewagtes literarisches Experiment, das nicht vollumfänglich gelungen ist. Aber welcher Roman ist das schon? In Zeiten, in denen sich allenthalben über die Durchschnittlichkeit literarischer Konfektionsware beklagt wird, sollte ein solcher Mut honoriert werden! Karen Köhler ist eine so mutige wie fähige Schriftstellerin.
Was ließe sich aber als Fazit der Debatte zwischen männlichen Kritikern und Feministen festhalten? Vielleicht dies: Männer, etwas mehr Einerseits-Andererseits täte so mancher Buchbesprechung gut, und Feministinnen, die ihr auch der Literatur überall und immer eure Ideologie überstülpen wollt: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten.
Karen Köhler: Miroloi
Hanser 2019
464 Seiten / 24 Euro
4 Kommentare zu „Dieses Dorf ist die Hölle selbst – Karen Köhler: Miroloi“