Wilder Osten – Fremder Westen – Lutz Seiler: Stern 111

Von Pascal Mathéus

Lutz Seiler musste dieses Buch schreiben. In der DLF-Kultur-Vorstellungsrunde mit den fünf Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse gab er an, dass der nun vorliegende Roman der letzte gewesen sein soll, bevor er zu seinem eigentlichen Metier – seinem „Heimathafen“ –, den Gedichten zurückkehren könne. Was bedeutet es aber, ein Buch schreiben zu müssen? Und welche Rolle spielt diese Not für die Leser eines solchen Romans? Ist das nur literarische Pose oder ein Geheimnis guter Literatur?

Als die Mauer fällt, bitten Carls Eltern ihren einzigen Sohn, nach Hause zu kommen. In Gera eröffnen sie ihm, dass sie den Weg in den Westen antreten werden. Sie übergeben Carl das Haus, die Werkstatt und, schweren Herzens, auch des Vaters geliebten Shiguli. Und weg sind sie. Nach einigen Wochen, in denen Carl nicht vielmehr unternimmt, als sich über die Vorräte an Eingewecktem im elterlichen Keller herzumachen, hält er es nicht mehr aus. Er steigt in den Shiguli und fährt nach Berlin. Warum Berlin? Weil in Berlin Gedichte geschrieben werden. Gedichte, wie auch er sie eines Tages schreiben möchte. 

Durch Zufall gerät er in die Osterberliner Häuserbesetzer-Szene, in der idealistische Freiheitssucher und renitente Großstadtindianer den Ton angeben. Bei den Bauarbeiten an der ‚Assel‘, die gleichzeitig als Hauptquartier der Bewegung und als Arbeiterkneipe dienen soll, fühlt sich der gelernte Maurer Carl zum ersten Mal gebraucht und anerkannt. Später wird er sein Geld als Kellner in der ‚Assel‘ verdienen, ohne jedoch sein eigentliches Ziel (ein Dichter werden!) aus den Augen zu verlieren. Wäre da nicht Effi, seine Jugendliebe, seine Muse, die Quelle zahlreicher Leiden. 

Nimmt der Roman seinen Ausgang von der widernatürlichen Umkehrung der Rollen, die seine Eltern ihrem Sohn aufbürden, indem sie an seiner Stelle in die weite Welt hinausziehen, versteht es Seiler, zahlreiche weitere existentielle Bedrängnisse mit diesem Grundkonflikt zu verbinden. Es sind dies die Umwälzungen und Nöte der Wendezeit, die Suche eines jungen Menschen nach seinem Platz in der Welt und das ewig quälende Thema Liebe. Wie Seiler all das miteinander verzahnt, wie er daraus eine Welt aus Sprache und eine vielschichtige Biographie webt, ohne dass sich je etwas aufgesetzt anfühlte, ist phänomenal. 

Carl Bischoff teilt viele seiner Eigenschaften und Erlebnisse mit Lutz Seiler. Wie er kam er 1963 in Gera zur Welt, lernte Maurer und veröffentlichte seine ersten vier Gedichte 1990 in der Anthologie Fluchtfreuden, Bierdurst. Spätestens an diesem einfachen Beispiel wird offensichtlich, dass Literatur und Realität hier nicht vollständig zur Deckung kommen. Schließlich hat ja in Wirklichkeit nur Lutz Seiler und nicht Carl Bischoff zu der genannten Anthologie beigetragen. Es handelt sich um Autofiktion, eine Mischung aus realen und erfundenen Elementen oder besser: Was tatsächlich geschehen ist, dient als Stoff für die künstlerische Gestaltung des Schriftstellers. 

Autofiktion ist seit einiger Zeit in aller Munde. In einem hörenswerten Vortrag in der Podcast-Reihe Hörsaal von DLF Nova hat sich der Schriftsteller Andreas Maier (zuletzt: Die Familie, 2019) zu diesem literarischen Phänomen geäußert. Er beklagt sich darin über die gerade bei öffentlichen Lesungen beliebte Frage nach den biographischen Übereinstimmungen mit den Schilderungen in autofiktionalen Texten. Die Tendenz zur Autofiktion rühre allerdings nicht etwa daher, dass sich die Schriftsteller alle so furchtbar interessant fänden, sondern vielmehr aus dem Umstand, dass sich in diesem Bereich der Literatur noch genügend nicht ausgetretene Pfade beschreiten ließen, was eine Voraussetzung für künstlerische Originalität darstelle. Sofern es sich dabei nicht um gut verkäufliche literarische Modeware handele, wie z.B. Benjamin von Stuckrad-Barres („It-Boy des Kulturbetriebs“) Panikherz, versteht er die Abkehr von „Story Telling“ und „vermeintlich interessante[n] Themen“ als Avantgarde. 

Wie war das noch mit dem Bücher-schreiben-Müssen? Andreas Maiers Romane und sein auf elf Bände angelegtes, autofiktionales Mammutprojekt Ortsumgehung erfreuen sich bei manchen Lesern und bei vielen Kritikern großer Beliebtheit. Er ist ein anerkannter und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Seine Kolumnen, die er u.a. für die Zeitschrift Volltext schreibt, sind immer originell und klug und auch der hier angeführte Vortrag macht da keine Ausnahme. Seine Romane sind aber vor allem eines: langweilig. Zwar sind sie keineswegs weniger klug als seine Kolumnen und Essays. Es mangelt ihnen jedoch an dem inneren Drängen, dem Feuer. Die Texte treten einem nicht als Äußerungen eines Menschen entgegen, der diese Worte, diese Gedanken loswerden musste. Das war bei Stuckrad-Barre anders, ebenso bei Saša Stanišić und das gilt unbedingt für die Romane von Lutz Seiler. 

Lutz Seiler musste Stern 111 wohl schreiben, um sich über seine Existenz als Dichter zu verständigen. Er musste es schreiben, um seine Eltern und die Dynamik der Wende zu verstehen. Er musste es schreiben, um das Zerbrechen der Liebe zu begreifen. Jenes Müssen kommt freilich nicht ohne Können aus. Weil es in Seilers Roman vor allem um die Sprache geht, ist sein vorrangiges Interesse, stets den richtigen Ton zu treffen. Dies gelingt ihm virtuos. Es wird mit den Mitteln der Sprache gezeigt, wie einer zum Dichter wird, indem er die Sprache der Eltern aufnimmt, die Bilder der Kindheit verbalisiert, an seiner Werkbank nicht aufhört, an den Wörtern zu feilen und stets auf Empfang bleibt, wenn es darum geht, die ihn umgebende Sprache in den Büchern, in der Stadt und auf der Straße auf ihren Klang und ihre Anschaulichkeit abzuklopfen. Es gilt, alles aufzunehmen und daraus zu schöpfen. 

In Kruso hat Lutz Seiler dieses Kunststück ein erstes Mal vorgemacht. Dort konzentrierte sich das Geschehen auf den geschlossenen Inselkosmos Hiddensee. War dort noch mehr stille Poesie, ist hier mehr aufregende Politik, mehr Zeitgeschehen, aber niemals als Anlass, um etwas zu demonstrieren oder zu beweisen, sondern als fruchtbarer Hintergrund und Klangraum. Einen Teil seiner Entwicklung hat Seiler in Kruso in die Figur seines Alter Ego Ed gelegt. Diesen Ed und auch die beinahe mythische Gestalt Kruso lässt der Autor in seinem neuen Roman für einen kurzen Moment auf der Bildfläche erscheinen und sie fügen sich nahtlos in die Welt von Stern 111 ein. Da zeigt sich, welch lebendigen poetischen Kosmos Seiler mit seinen Büchern geschaffen hat. 

Nach seiner zehn Jahre und zwei preisgekrönte Romane währenden Odyssee ist Lutz Seiler seine Rückkehr in den Heimathafen zu gönnen. Auch wenn es ein Jammer wäre, wenn es nun keinen neuen Roman mehr gäbe; wir freuen uns auf seine Gedichte! 

Lutz Seiler: Stern 111
Suhrkamp 2020
528 Seiten / 24 Euro

Foto: Emslichter / pixabay.com

4 Kommentare zu „Wilder Osten – Fremder Westen – Lutz Seiler: Stern 111

  1. Eine schöne Rezension, gerade da sie sich auch nicht nur mit dem Nacherzählen des Inhalts aufhält. Die Frage der Autofiktion und des Biographischen scheint mir in diesem Frühjahr besonders durchzuschlagen, gerade habe ich auch mit Eshkol Nevos „Die Wahrheit ist“ begonnen, das ähnliche Fragen thematisiert.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar