Von Pascal Mathéus
‚Allegro Pastell‘ ist ein merkwürdiges Buch. Obwohl es weder sprachlich noch inhaltlich Außergewöhnliches bietet, hat es in der Literaturkritik heftigste Erregungen ausgelöst. Ijoma Mangold nennt es in der ZEIT „definitiv eines der wichtigsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur“ und stellt gar in Aussicht, „eine neue Jugendbewegung“ könne daraus entstehen. Andere Kritiker fühlen sich so sehr von den Figuren der Randtschen Welt provoziert, dass sie ihnen an den Hals wünschen, es mit „Problemen zu tun [zu] bekommen, die nicht alle unmittelbar nur etwas mit ihrer eigenen Empfindsamkeit zu tun haben“. Woher kommt diese Erregung? Was macht diesen Roman so atemberaubend gut – und so verdammt traurig?
Wenigstens ein Literaturkritiker lag mit seinem Urteil über Allegro Pastell schon mal kräftig daneben: Gerrit Bartels, Literaturredakteur beim Tagesspiegel, twitterte kürzlich über den Anfang des Romans: „Nicht viel passiert in über dreißig Jahren Popliteratur.“ Bartels verwies dazu auf Thomas Meineckes Kurzgeschichten Mit der Kirche ums Dorf. Ansonsten fallen in fast allen Kritiken zu Randts Roman die Namen Rainald Goetz und – vor allem – Christian Kracht als Vergleichsgrößen. Der Rückblick auf jenes Buch, das wohl wie kein anderes für die deutschsprachige Popliteratur steht, zeigt: Es hat sich eben doch einiges getan seit Krachts Faserland von 1995.
Krachts Held gab sich dem Exzess hin. Er gefiel sich in seiner dandyhaften Überheblichkeit und schaute als einer von Wenigen auf die Vielen herab, die sich nicht die teure Kleidung und die ausgesuchten Drinks und Drogen an den hippsten Orten leisten konnten. Das alles hat sich merklich demokratisiert. Leif Randts Helden gehören zwar immer noch einer Elite an, doch in Zeiten von Billigflügen und Massenuniversitäten können sich ihr alle zugehörig fühlen, die irgendwann einmal ein paar Semester studiert oder schon mal einen Urlaub in den Vereinigen Staaten verbracht haben. An die Stelle von Barbour sind in Allegro Pastell folgerichtig die Hausmarken von Decathlon getreten.
Während sich bei Kracht am Ende immerhin noch eine, wenn auch vergebliche, Sehnsucht nach Tradition und Kunst in der erfolglosen Suche seines Helden nach dem Grab von Thomas Mann ausdrückte, haben die Figuren in Allegro Pastell längst jegliche lebendige Verbindung mit dem Kanon, ja, mit der Kunst und der Bildung überhaupt verloren. Tanja, die weibliche Hauptfigur, findet gut, dass es in ihrem Leben kein Kunstwerk gibt, dass sie wirklich begeistern könnte und ihr „Boyfriend“ Jerome, die männliche Hauptrolle, hält Peter Handke für einen Schriftsteller aus der Schweiz. Aber auch sonst gibt es in ihrem Leben nichts, was ihm auf irgendeine Weise Sinn verleihen könnte. Die Familie nicht, die Psychologie nicht, die Religion nicht, die Kunst nicht, die Liebe nicht. Es ist alles schon ok. Aber nichts interessiert sie wirklich. Die einzige kurzzeitige Überwindung dieser Gleichgültigkeit gelingt ihnen durch das Einwerfen von Ecstasy oder anderen Drogen. Aber auch hierbei wird die Dosis genauestens kontrolliert, damit es ja nicht zu bunt wird.
Was aber der entscheidende und wirklich verrückte Unterschied von Allegro Pastell zu Faserland ist: Die Figuren sind mit ihrer lauwarmen, ein bisschen lustigen, ein wenig nachdenklichen, aber vor allem in jeder Hinsicht unaufgeregten Haltung die meiste Zeit vollkommen zufrieden. „Ihre Bereitschaft, auch gewöhnliche Gedanken zu teilen“, ist gerade der Grund, warum sich Jerome und Tanja zueinander hingezogen fühlen. Es herrscht zwischen ihnen kein stressiger Pointen- oder Überbietungsdruck. So ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Charaktere ihr Hang zu Beliebigkeit und Relativismus. Während Jerome einmal darüber sinniert, dass eigentlich alle beruflichen Tätigkeiten, die er und seine Freunde ausüben, gleich unwichtig sind, stellt die Schriftstellerin Tanja an anderer Stelle fest, wie gleichmäßig gleichgültig es ist, ob sie nun Bücher schreibt oder irgendeiner anderen Tätigkeit nachgeht. Es ist alles gleich viel wert oder wertlos, weil es keine Kriterien gibt, um etwas zu beurteilen. Statt sich über Sinnfragen den Kopf zu zerbrechen, verbringen die Figuren lieber ihre Zeit damit, sich penibel selbst zu beobachten und all ihr Tun und Denken auf ihre Außenwirkung zu überprüfen. Sie wollen weder sich noch andere mit einer übermäßigen Reaktion belasten.
Die meisten Kritiken heben zu Recht die extreme Genauigkeit der beobachteten Seelen- und Gesellschaftsformationen als den entscheidenden Wert von Allegro Pastell heraus. Diesen Vorzug hat auch ZEIT-Redakteur Ijoma Mangold besonders betont. In einem anderen Punkt muss Mangold aber vehement widersprochen werden: Für ihn sind Randts Figuren nämlich Vorbilder. Die ihm vorschwebende Jugendbewegung könnte ihrem Beispiel folgen und so „den Fetisch der Unmittelbarkeit durch ein Konzept reflexiver Hipness“ ersetzen. Aber sind diese Menschen, die Gespräche, die sie führen, die Arbeiten, die sie verrichten und die Beziehungen, die sie unterhalten, wirklich nachahmenswert? Die große Liebe, die euphorische Kunsterfahrung, das unbedingte Gefühl, das richtige zu tun – all dies bleibt Tanja und Jerome verwehrt. Ist der Zustand permanenter Entspanntheit diesen Verzicht wert? Sicher nicht!
Es gibt aber noch ein anderes Argument, um Mangold entschieden zu widersprechen (und ich wundere mich, dass ich mich plötzlich einmal selbst eines solchen Arguments bediene): es fühlt sich eben offenbar tatsächlich anders an, wenn man von einer Sache direkt betroffen ist oder nur von außen darauf schaut. Wenn Randt mit seinem Generationenporträt die Wirklichkeit getroffen haben sollte, (und dafür spricht einiges), dann muss das für die Angehörigen dieser Generationen ein Weckruf sein. Wie traurig dieser Zustand permanenter lauwarmer „reflexiver Hipness“ ist, zeigt sich nämlich im Scheitern der Liebesbeziehung von Jerome und Tanja und in den letzten, endlich einmal so etwas wie Leidenschaft aufscheinen lassenden Nachrichten von Tanja an ihren Exfreund. Als Jerome die Verantwortung einholt und Tanja die Beziehung daraufhin für endgültig beendet erklärt, wird Allegro Pastell als das erkennbar, was es die ganze Zeit war: ein über knapp 300 Seiten ausgedehnter lauwarmer Schrei nach Liebe.
Das überwältigende Gefühl der Lähmung, das die Millennials seit jeher begleitet, ist uns selbst zuwider. Was können wir tun gegen die Lauheit in uns? Die Lösung bestünde in der Rückbesinnung auf Bildung und Tradition, der Ekstase in der Kunst, dem Kampf für die eigenen Überzeugungen oder dem Festhalten an haltlos riskanten Liebesbeziehungen. Wir sollten um Gemeinsamkeiten streiten, Dissens aushalten und um Wahrheit ringen. Wir sollten immer wieder das Gespräch miteinander suchen und mit Rainald Goetz danach fragen, wie das Scheißleben geht. Wir müssen nach Antworten suchen, immer neue Fragen fragen, Kunst machen und über Kunst reden. Wir könnten damit anfangen, indem wir alle dieses Buch lesen.
Leif Randt: Allegro Pastell
KiWi 2020
288 Seiten / 22 Euro
Foto: Icons8_team / pixabay.com
3 Kommentare zu „Ein lauwarmer Schrei nach Liebe – Leif Randt: Allegro Pastell“