Von Matti Borchert
Nimmt man an, die Geheimnisse der Welt offenbarten sich ganz besonders in der Kunst, dürfte Ulrich Tukur eine besondere Nähe zu ihnen unterstellt werden. Schließlich hat er sich als ein schöpferischer Tausendsassa erwiesen. Er ist nicht nur seit langem ein weithin bekannter und verdienter Schauspieler, sondern unlängst auch ein Vergnügen bereitender Musiker und ein reger Schriftsteller, der die Literaturlandschaft seit den 2000ern mitgestaltet hat. Der Vielkönner Tukur hat das Menschsein umfassend dargestellt, besungen und erzählt, weshalb er bestens gerüstet zu sein scheint, auch die ganz großen Fragen zu stellen: Sein neuer Roman gilt dem Titel nach nichts weniger als dem Ursprung der Welt. Darf man auf tiefere Erkenntnis hoffen?
Tukurs Erzählprosa verdient insofern schon Beachtung, als sie abseits zeitgenössischer Ästhetiken anscheinend einem romantischen Programm verpflichtet ist. Wie seine frühere Novelle Die Spieluhr greift er auch beim neuen Roman ins Repertoire romantischer Theorie und zur Form der schauerhaften Erzählung: Als Auslöser der Handlung erscheint abermals ein geheimnisvoll anziehender Gegenstand, der dem Protagonisten eine andere Welt eröffnet, in der seine eigene Realität allerdings zunehmend zersplittert und er forthin zwischen Traum und Wirklichkeit schwankt.
Paul Goullet ist ein verschlossener Studienabbrecher, der nicht weiß, wohin mit sich in der Welt. Sein goldener Topf ist ein altes in Paris erworbenes Fotoalbum. Als er sich bei näherer Betrachtung auf den Fotos selbst zu erkennen glaubt, begibt er sich auf die Spur des fotografierten Mannes, die ihn nach Südfrankreich zur Zeit des 2. Weltkriegs führt. Dort nutzte ein Kinderarzt namens Prosper Genoux die Hilflosigkeit von Verfolgten und Flüchtigen aus, um unter Vorwand seiner Unterstützung Männer zu berauben und Frauen auf ungeheuerliche Weise zu töten. Immer wieder traumwandelt Goullet in den Abgründen seines angeblichen Doppelgängers.
Eine charakterliche Verbindung zwischen beiden Figuren versucht der Text über sein Leitmotiv herzustellen: Genoux und Goullet eint die Passion für die Malerei. Allen voran das Gemälde Courbets mit dem Titel Ursprung der Welt fasziniert sie in gleicher unaussprechlicher Weise. Mit der Anziehungskraft des Weltenursprungs geht der Roman romantisch aufs Ganze. Das Absolute, die blaue Blume gerät ins Visier.
Doch worin besteht dieser Urgrund hier? In der Schöpfungskraft des weiblichen Geschlechts, wie vom Gemälde suggeriert? In der eigenen angeblichen Vergangenheitsschau? In der angenommenen Verkettung unterschiedlicher Leben zu verschiedenen Zeiten? Oder – romantisch gesprochen – in der Potenzierung dieser Idee im reflektierenden Medium der Literatur? Der Roman besitzt nicht die Kraft, einen dieser Ansätze bis zum Ende durchzuspielen. Dass hier alle Ideen verglimmen, liegt aber nicht an bewusst gesetzten Leerstellen, sondern an der unausgereiften Komposition. Es bleibt unklar, was Tukur eigentlich erzählen möchte.
Die zentrale Handlung muss immer wieder mehreren herbeigesucht wirkenden Rahmen- und Binnenhandlungen weichen. Eigentlich geht es auch um eine Dystopie: Goullet lebt im Europa des Jahres 2033. Der Kontinent bricht auseinander, in der Türkei herrscht Bürgerkrieg, Russland überfällt das Baltikum, Deutschland sieht sich zahlloser Flüchtlingsströme ausgesetzt, die es nicht mehr zu organisieren weiß. Dessen ungeachtet forscht Goullet nach seiner Herkunft. Er weiß, dass er adoptiert wurde, möchte aber dennoch mehr über das im Dunkeln liegende Leben seines Großvaters erfahren. Dafür geht er nach Paris, mittlerweile Hauptstadt eines Überwachungsstaates, der von der Geheimpolizei geführt wird. Dort wird er nebenbei hineingezogen in die Unternehmungen der neuen Resistance.
In einem zwischenzeitlich verwirrenden Beziehungsgefüge stellt sich heraus, dass sein Großvater Leiter der Gestapo in Toulouse war und seine Pensionswirtin in Frankreich seine Tante (eigentlich Großtante) ist. Die ist die Nichte eines der Opfer Genoux’, das zugleich die Geliebte des Großvaters war. Nicht ganz auszuschließen ist, dass Goullet doch irgendwie verwandt ist mit Genoux. Ansonsten ist die Hauptfigur ein bisschen verliebt in eine Aktivistin, was ihn noch ein wenig in Gefahr bringt. Ein buntes Einerlei, das in seiner erzählerischen Konstruktion oft anmutet, als wäre es gegen das eigentliche Erzählvorhaben zusammengesetzt. Der Hauptstrang der romantischen Erzählung von Fotoalbum, Doppelgänger und Gemälde verwirrt sich angesichts der Fülle an Nebensträngen
Aus den sperrigen Konstruktionen entspringt manch bizarre Blüte: Während es der französischen Wirtin angesichts der äußerlichen Ähnlichkeit zu Genoux im ersten Moment vor Goullet noch graut, hat sie den Jungen aus Deutschland just in dem Augenblick furchtbar lieb, als sie in ihm einen Nachkommen des Gestapoleiters entdeckt. Auch Gestapoblut ist dicker als Wasser. Blöderweise stammt der neugewonnene Neffe aber eigentlich gar nicht von seinem Opa ab. Auch die Traumsequenzen geraten nicht selten zur komischen Inszenierung: Um sich nämlich ausreichend in das Leben Genoux’ einträumen zu können, darf Goullet die Zeit in Frankreich selten bei wachem Zustand verbringen. Unzählige Male erleben wir, wie die Hauptfigur wegnickt oder ins Koma geprügelt wird. Eigentlich recht witzig, wenn man angesichts dieses allzu betont schematischen Erzählgangs nicht selbst müde würde.
Die Defizite in der Komposition kann der Erzähler nicht wettmachen. Wohl um sicherzugehen, dass jeder folgen kann, scheint er gezwungen, die ungelenke Handlung regelmäßig zu wiederholen. Die eigene Entflechtungstätigkeit nimmt er gleich als Gelegenheit, die hölzernen Motive und Einstellungen der Figuren für den Leser brav auszudeuten. Dabei entpuppen sich aber leider auch die letzten Geheimnisse der Romanwelt als heiße Luft. Tiefere Erkenntnis ist hier nicht zu erwarten. Die romantischen Ideen sind nicht mehr als unzusammenhängende Tupfer, die dem Roman zwar Anschein, aber kein inhaltliches Fundament zu geben imstande sind. Die langen Tage dieser außergewöhnlichen Zeit verleiten zwar zu manch abseitigem Griff ins Literaturregal, sobald die Zeit aber wieder zu einem kostbaren Gut wird, ist von diesem Roman ganz einfach abzuraten.
Ulrich Tukur: Der Ursprung der Welt
Fischer 2019
304 Seiten / 22 Euro
Foto: EME / pixabay.com