Das literarische Jahr 2019 endete mit üblen Twittergefechten zu Karen Köhlers außerordentlichem Roman Miroloi. In deutschen Feuilletons, österreichischen Social-Media-Gruppen und Schweizer Kulturradios wurde über weibliches Schreiben im frühen 21. Jahrhundert gestritten. Es ging um die Selbstermächtigung der Frau. Im Jahr 2020 geht die Diskussion stürmisch weiter. Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer beteiligt sich durch die Veröffentlichung eines aufsehenerregenden Porträts einer alles andere als schwachen Frau in den Untergangsjahren der Habsburgermonarchie. Ein Selbstermächtigungszeugnis der besonderen Art.
Schlagwort: Kritik
„Wir saßen in heftiger Harmonie einander gegenüber“ – Martin Walser: Mädchenleben oder Die Heiligsprechung
„Er ist im Grunde überhaupt kein Erzähler“, urteilte Marcel Reich-Ranicki 1996 über Martin Walser. Der am Bodensee aufgewachsene Autor war damals schon eine lebende Legende: zuerst Mitglied der Gruppe 47, bald Büchner-Preisträger, Starautor der Tendenzwende, vielzitierter Gesellschaftskritiker, Nobelpreisanwärter. Wenn Peter Handke trotz seiner ausserliterarischen Verfehlungen einen Nobelpreis bekommen konnte, was bewahrt dann Martin Walser noch davor, einen zu erhalten? Sein neuestes Buch wird es nicht sein. Es ist zu unbedeutend. Was damals nämlich noch eine gewagte Aussage Reich-Ranickis war, ist inzwischen eingetreten: Walser erzählt nicht mehr, er verfasst in einer wunderbaren Sprache liebliche Büchlein ohne Biss. Und manchmal fällt durch einen lichten Dunst von Sprache ein Schatten von Gewalt. Unser Autor erklärt, warum sein neuestes Werk nicht viel mehr bietet als ein wenig Zerstreuung.
Ideenlos am Starnberger See – Christoph Poschenrieder: Der unsichtbare Roman
Christoph Poschenrieder schreibt einen Roman über Gustav Meyrink im Jahr 1918. Wie schon in seinen Vorgängerromanen versucht sich der in München lebende Schriftsteller an einer Montage von Erfundenem und Tatsächlichem. Was damals Trumpf war, geht in dem neuen Buch nicht auf.
„Es läuft gut für die Menschheit“ – Sibylle Berg: GRM. Brainfuck
Sexsklaverei, Sozialkaufhäuser, Snuff-Videos – all diese Themen wurden bereits einmal in Literatur abgehandelt. In richtig guter Literatur. Sibylle Berg führt diese Absonderlichkeiten der gegenwärtigen Sozio- und Technosphäre in einer Gesamtschau zusammen und fügt ihnen noch Wut und Hass und eine kaum zu überbietende Grausamkeit hinzu. Alles abgemischt mit dem harten Sound von Grime. Perverse Punchlines. Brutale Nachhallefekte. Totale Überorchestrierung. Kann das genießbar sein?
Die besten Geschichten schreibt das Internet – Berit Glanz: Pixeltänzer
Nicht viele Romane tragen der Allgegenwärtigkeit des Internets so gründlich Rechnung wie ‚Pixeltänzer‘. Es gibt heute nicht mehr das Leben auf der einen und das Internet auf der anderen Seite. Beide Sphären durchdringen sich ganz und gar. Berit Glanz’ Debütroman handelt von dieser Verschränkung und von den sich daraus ergebenden veränderten Bedingungen für das Geschichtenerzählen selbst.
Fehlversuch – Simone Lappert: Der Sprung
Eine Kleinstadt befindet sich im Ausnahmezustand. Im erfundenen Schwarzwald-Städtchen Thalbach steht eine junge Frau in grüner Latzhose auf einem Hausdach und wirft mit Ziegeln nach den untenstehenden Gaffern. Der Prolog verrät uns: Sie wird springen. Wie die Gesellschaft sie dazu zwang, erzählt der Roman von Simone Lappert auf ungewöhnliche Weise. Dafür wird die Autorin allseits gefeiert. Nicht von uns.
Feste Nahrung fürs Gewissen – Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land
Jenseits des österreichischen Nirgendwo liegt, auf seine Vertilgung durch ein Erdloch unbekannter Größe wartend, Groß-Einleben. Es ist die Kulisse zu einem Schauspiel um eine Gesellschaft, deren einzige Anstrengung die Bewahrung des kollektiven Glaubens an die eigene moralische Unversehrtheit zu sein scheint. In ihrem Roman vermisst Raphaela Edelbauer die Aktualität und den Sinn heimatfühliger Identitätsversprechen.
Drache vs. Großmutter – Saša Stanišić: Herkunft
Wovon handelt ‚Herkunft‘? Von gestern, heute und morgen. Vom Erzählen an Aral-Tankstellen und dem Weissagen aus Nierenbohnen. Von Krieg und Flucht, Friedhöfen und Gräbern, aber auch von der Unbeschwertheit und dem Übermut, den es braucht, um mit freiem Oberkörper lauthals Eichendorff zu rezitieren. Aberwitz und Melancholie sind in fast allen Episoden miteinander vermengt, wobei mal das eine, mal das andere vorherrscht. Das Buch ist von einer sinnlichen und gedanklichen Fülle, an der man sich berauschen kann. Es macht glücklich und tieftraurig.
Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt – Sibylle Lewitscharoff: Von oben
Der Himmel über Berlin ist der Aufenthaltsort des Helden in Sibylle Lewitscharoffs neuem Roman. Ein unsichtbarer Geist schwebt über der Stadt und sucht die Menschen und Schauplätze auf, die ihm zu Lebzeiten etwas bedeutet haben. Kein Tunnel und kein gleißendes Licht erscheinen dem Verstorbenen. Auch für die Toten gibt es weder Gewissheit noch Ruhe.
Bullshit-Jobs in der Bad Bank – Tom Zürcher: Mobbing Dick
Der Lockruf des Geldes treibt den Helden aus Tom Zürchers für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman ‚Mobbing Dick‘ in die Welt der Banker. Diese wird gezeigt als das finstere Herz der nach außen so freundlich und aufgeräumt wirkenden Schweiz. Wer hier etwas werden will, wird stattdessen wahnsinnig.










